Mit weißer Weste

Gegner der Konvention Willy Brandt im Spiegel der bildenden Kunst

"Lebensläufe kann man nicht auf Flaschen ziehen". In dem Satz, den Willy Brandt 1987 in seine Abschiedsrede als SPD-Parteivorsitzender in der Bonner Beethovenhalle flocht, steckt ein größeres Wissen, als die lapidare Sentenz anklingen lässt: davon, dass die eigene Biographie Umwege nimmt, manchmal nehmen muss, die sich jeder Standardisierung widersetzen. Und bei welchem deutschen Politiker lassen sich diese Umwege besser studieren als bei dem 1992 verstorbenen Ex-Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden. Am 18. Dezember 1913 als unehelicher Sohn einer Lübecker Verkäuferin geboren, stieg er über den Umweg des norwegischen Exils in den Jahren der Nazi-Diktatur 1969 zum ersten SPD-Bundeskanzler der alten Bundesrepublik, gar zum Friedensnobelpreisträger auf. Ein - bei aller Verschlungenheit - geradliniger Lebenslauf, der den SPD-Politiker der Nachwelt vielleicht weniger als Staatsmann in Erinnerung halten wird denn als historische Gestalt.

Doch wenn sich deren Schicksal schon nicht auf eine Flasche ziehen lässt, wie dann erst auf einen Keilrahmen? Die Schwierigkeiten, die Facetten dieses Lebens auf einen ästhetischen Nenner zu bringen, konnte man in einer Wanderausstellung von Brandt-Porträts studieren, die zwischen Brandts zehntem Todestag am 8. Oktober 2002 und seinem 90. Geburtstag an diesem 18. Dezember ein Jahr lang durch Deutschland tourte und jetzt in seiner Heimatstadt Lübeck endet. Zwar zieht das Spannungsfeld von Macht und Moral, in dem sich Brandt zeit seines Lebens besonders bewegte, Künstler aller Generationen geradezu magisch an. "Er bewunderte sie völlig", schrieb ihm Dorothea Ernst, die Witwe Max Ernsts, nach Brandts Rede zum Tod des Malers im April 1976. Und immer wieder gelang es einzelnen Künstlern, diese Spannung zu fassen. Georg Meistermanns berühmtes Porträt von 1978 beispielsweise zeigte nicht nur auf eine kongeniale Art etwas von der Introvertiertheit Brandts. Das Bild, das einen Sturm der Entrüstung bewirkte, brach auch mit allen Traditionen der Politikerdarstellung. Doch Meistermanns Versuch blieb eine unübertroffene Ausnahme unter den vielen anderen Versuchen der Kunst, das Phänomen Willy Brandt zu fassen.

Meistermann hatte Brandt auf der Auftragsarbeit für die Bundesrepublik Deutschland fast pointillistisch an die Grenze zum Immateriellen geführt. Nur der markante Schädel erinnerte an das Modell. Der SPD-Vorsitzende war fasziniert von dem unkonventionellen Porträt. Doch der Verzicht auf alle Insignien von Macht und Habitus in einem Bild für die offizielle Kanzlergalerie erregte das politische Bonn ebenso wie eine pikante Kleinigkeit: Meistermann, von den Nazis als "entarteter" Künstler verfolgt, hatte Brandt ohne Krawatte aber mit weißer Weste gemalt. Wer die Herausforderung, die die Abstraktion und der Bruch mit dem Naturalismus, 20 Jahre nach dem Sieg des Informel als beherrschendem Malstil der Nachkriegszeit, für die Politik noch immer darstellte, kann dies in der akribischen Studie des Bonner Kunsthistorikers Kai Langhans noch einmal nachlesen. Nicht nur Brandts direktem Nachfolger Helmut Schmidt sondern noch Helmut Kohl war Meistermanns Porträt ein solcher Dorn im Auge, dass er es abhängen ließ. Resigniert gab Brandt dem Drängen Kohls nach und ließ sich von dem Düsseldorfer Maler Oswald Petersen poträtieren. Seitdem hängt im Bundeskanzleramt ein steifes Konventionsbild des Antikonventionalisten Brandt. Währendessen Meistermanns Bild nach verschiedenen Exilstationen ein Schattendasein in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin fristet. Je sehr sich die Macht in der modernen Politik "abstrahiert", desto mehr scheinen sich ihre Träger ihrer eigenen, bleibenden Rolle durch den Rückgriff auf das erkennbare Bild vergewissern zu müssen.

Verglichen mit Meistermanns vergessenem Porträt ist die oft fotografierte Bronzestatue Brandts aus der Hand des Berliner Malers Rainer Fetting von 1996 ein deutlicher Abfall. Auch im Atrium der nach dem Ex-Vorsitzenden benannten SPD-Zentrale in Kreuzberg steht kein Staatsmann mit heroischer oder überlegener Geste sondern ein grüblerischer Mensch im zerbeulten Anzug. Der 1949 geborene Fetting, inzwischen ausgebrannter Star der neoexpressionistischen "Neuen Wilden" im Berlin der achtziger Jahre, hat Brandt mit übergroßem Kopf und weit zu seinem Gegenüber ausgestreckter Hand zum Diskurspolitiker gegossen. Wer will, kann darin ein Symbol des Habermaschen Theorems von der Politik als kommunikativem Handeln sehen. "Machtworte", wie sie Basta-Nachfolger Schröder liebt, waren dem zögerlichen Brandt ein Gräuel. Doch im Gegensatz zu Meistermanns Meisterwerk der Abstraktion fällt Fetting in eine fast naive Figuration zurück. Sein Brandt steht da wie ein tolpatschiger Clown.

Brandts durch und durch ziviler Duktus, seine Lust am Dialog zieht sich durch fast alle Porträts von ihm. Fettings ausgestreckte Hand findet sich auch bei Johannes Heisig wieder. Der 1953 geborene Maler aus Leipzig, Sohn des Malers Bernhard Heisig (der wiederum das offizielle Porträt Helmut Schmidts für die Kanzleramtsgalerie gemalt hat), hat vielleicht die überzeugendsten Porträts Willy Brandts geschaffen. Heisigs hellbraune Ölbilder kommen aus einer Tradition, die auf Lovis Corinth zurückweist. Doch er transzendiert diese Figuration von innen. Auf seinen Bildern franst Brandts Körper von der Seite aus, die Oberfläche wirkt schrundig, sie hellen sich von der Mitte her auf. So gelingen ihm Sinnbilder des Widerspruchs zwischen Nebulösem und Konkretem, zwischen Verletzung und Verschlossenheit, zwischen Zerrissenheit und Entschiedenheit, des SPD-Patriarchen, den Spötter nicht ganz zu Unrecht gern "Willy Wolke" nannten.

Auch wenn Brandt den "Radikalenerlass" in Szene setzte - gerade seine biographischen und politischen Brüche haben Intellektuelle wie Künstler gereizt. Doch die Porträts, die daraus entstanden sind, zeigen etwas von der Kraft einer singulären Biographie, die sich dem Abheben vom Original widersetzt. Ein Grund ist die eigentümliche Dialektik von Vitalität und Schwermut Brandts, die der Fotograf Jupp Darchinger schon einfing, als der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin (West) noch als stromlinienförmige Kennedy-Kopie wahlkämpfend durch die Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre zog. Dieser Restbestand an unangreifbarer Persönlichkeit taugt nur bedingt als Spielmaterial. Wie man dem gelben Brandt-Kopf des Thomas Bayrles ansehen kann. 2000 stellte der Frankfurter Kunstprofessor eine Serigrafie her, auf der er einen Brandt-Kopf aus hunderten kleiner Brandt-Köpfe zusammensetzte. Diese Biographie widersetzt sich auch der Ikonisierung, wie sie schon C. O. Paeffgaen 1972 und 1974 versuchte, als er einer Brandt-Fotografie mit dickem Filzstift die Konturen nachzog. Und aus Andy Warhols Porträtserie von 1976 - ein Exemplar daraus schmückt heute das Dienstzimmer Joschka Fischers im Auswärtigen Amt - schaut nicht wirklich ein Popidol, trotz dandyhaft in den Mundwinkel gesteckter Zigarettenspitze. Auch wenn Brandt heute immer noch wie ein geistiger Übervater über allen SPD-Wassern schwebt - eine tote Ikone wie Mao oder Lenin ist aus ihm (zum Glück) nie geworden.

Vielleicht hat das mit dem exemplarischen Scheitern dieses Mannes zu tun. Johannes Heisig sieht im Leben Brandts vom Widerstand über die Macht bis zum Verrat Herbert Wehners und Günter Guillaumes und der nachfolgenden Niederlage als Kanzler ein Drama Shakespearscher Dimension. Das mag überzogen klingen. Doch wenn man die Fotos von Herlinde Koelbl betrachtet, die die Starfotografin zwei Jahre vor Brandts Tod gemacht hat, scheint der Vergleich nicht mehr so weit hergeholt. Da sieht man Brandt mit in die Arme gesenktem Kopf und einem skeptischen Blick, fast schaut er ratlos, es ist der Blick eines alten Mannes, der an Lear erinnert. So hätten sich August Bebel oder Friedrich Ebert nie gehen lassen. Endete die Arbeiterbewegung mit Willy Brandt? Wohl kaum, Deutschland ist nicht die Welt. Doch in Koelbls Porträt spürt man plötzlich auf sehr persönliche Weise etwas von der utopischen Skepsis am Ende des 20. Jahrhunderts. Am Ende jeden kollektiven Aufbruchs bleibt der Einzelne, der sein Leben mit sich selbst abzurechnen hat.

Willy Brandt: Porträts. Vorwort von Gerhard Schröder. Mit Beiträgen von Johannes Heisig, Pit Kroke, Dieter Ronte und Klaus-Henning Rosen. Hrsg. v. Freundeskreis Willy Brandt-Haus e.V., Parthas-Verlag, Berlin 2002, 96 S., 17,80 EUR

Kai Langhans: Willy Brandt und die bildende Kunst. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2002, 186 S., 39,80 EUR


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