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EMOTIONSKNETE Liebeskranke Gesellschaft stürmt Berliner Volksbühne

Liebeskummer lohnt sich nicht my darling, schade um die Tränen in der Nacht. In den fünfziger Jahren konnte man diesen Hit noch fröhlich trällern. Das Wirtschaftswunder kannte keine Schmerzen. Fröhlich verbaute man die Triebe zu Wohlstand. Irgendwie geht's ja immer weiter: weil schon morgen das Herz bald wieder lacht. Die glücklichen Zeiten sind vorbei. Kapitalismus hängt doch mit Depression zusammen. Und Liebeskummer muss man wieder herausschreien. Braucht ihn nicht mehr still und rehamässig an roter Emotionsknete abreagieren.

Was täte das neue Deutschland eigentlich ohne Frank Castorfs Berliner Volksbühne? Vom Blitz- zum Triebableiter. Erst durften die ungeliebten Ossis da ewig und drei Tage ihre unerwiderte Liebe zum Westen abfackeln. Jetzt die erotische Therapiestation. Boris und Babs, Tom und Nicole - es war höchste Zeit, dass endlich mal einer die liebeskranke Republik ausrief und das Private öffentlich machte, wie vergangenes Wochenende das enfant terrible der deutschen Bühnen am Rosa-Luxemburg-Platz mit der Lovesick-Society. Selbst der Experte des juvenilen Liebesschmerzes, Benjamin von Stuckrad-Barre schlich mit roten Augen und ein paar Groupies um aber nicht auf die Klappstühlchen der 120 Liebesschmerzhelfer von Antje Vollmer bis Lilo Wanders. Unter dem sexual-fantasy-outfit der cool Economy schlummert nämlich ein schwer romantischer Liebesschmerz. Dass der befreite Eros eine Kehrseite hat, hatte mir schon geschwant, als mir kürzlich ein Freund, der sonst keine Naked-Sex-Party auslässt, ungewohnt selbsternüchert gestand: "Ich bin sexsüchtig". Er wollte sogar schon zu den anonymen Sexmaniacs gehen. Seine Karriere als Callboy scheitert in schöner Regelmässigkeit daran, dass er sich rettungslos in seine Kundschaft verliebt. Das Warenverhältnis, das er eigentlich raffiniert ausnutzen wollte, um seinem Geldbeutel aufzuhelfen, stößt ihn immer wieder hübsch dialektisch auf die wahre Liebe zurück. Die hält dann meist aber nicht lang. Ein Drama! Eigentlich hatte ich ihn mitnehmen wollen in die Volksbühne. Er hatte er dann aber doch keine Zeit, weil er sich auf ein "letztes" extasygesteigertes Sex-Wochenende verabredet hatte. Sucht ist halt Sucht.

Und Liebe nicht immer Liebe. Im Zeitalter ihrer technischen Neutralisierbarkeit löst sie sich sogar auf. "Der Liebe gehört die Zukunft" verspricht zwar AOL im Netz. Aber das "Ich hab dich ganz doll lieb" schwören die meisten am liebsten nur noch per SMS. Oder hinter den Ich-Masken des chat.

Die Ausrufung der liebeskranken Gesellschaft suggerierte, alle hätten den großen Liebesschmerz. Doch was ist mit denen, die in weder in Pain, Rag, noch Resent leiden? Wo gar kein Schmerz mehr produktiv macht. Weil das Herz gar nicht mehr zerbricht? Was soll denen Gerburg Treusch-Dieters guter Rat von der "Wut als Aufbruch"? Wo nur noch das liebeslose Einerlei des Alltags die Triebe drückt? Die Oper ist zwar eine große Liebesorgel. Wie der weißbefrackte Lou-van-Burg-Klon Christoph Schlingensief demonstrierte, als er seinen ersten imaginären LovepangsTM-Opernführer vorstellte? In der ersten Unterwasseroper der Welt ist die Liebe nämlich noch tiefer als das Meer. Aber auf Dauer ist sie kein Ersatz.

Michel Houellebecq stellt die verlorene Liebe mit der Quantenmechanik wieder her. Sein neuer Mensch reproduziert sich ohne Sex in einer "stabilen Konfiguration". Die Berliner Lovepangs-Protagonisten setzen noch auf den destabilisierenden Schmerz des alten Menschen. Für den Altkommunarden Rainer Langhans muss für jede neue Liebe eine alte sterben. "Da musst du bereit sein für" sagte er mir, ohne mit der Wimper zu zucken. Kummer macht nämlich klug. Aber Glück ohne Ende verheisst er nicht. Denn der Liebesschmerz ist unsterblich.

Diese Spielzeit hat die Volksbühne dem Menschen gewidmet. Nicht, dass es nicht schon genügend Erotik-Talkshows gäbe. Aber so wie hier das Intime öffentlich wurde und doch intim blieb, muss das Lovepang-Wochenende eigentlich jedes Jahr wiederholt werden. Natürlich hat Theater als Lebenshilfe seine Pferdefüße. Das Ventil des emotionalen Überdrucks, das hier so gewaltig zischte, zeigte den Anfang vom Ende einer überlebten Affaire: der jüngste Geniestreich der Volksbühne führt das Theater in die Zukunft des Postdramatischen und der Individualisierung. Erzählt von tausend Liebesbiographien! Wo jeder Zuschauer Interpret und Darsteller der eigenen vermasselten Gefühle ist, wandert die Liebe zur guten alten Bühne in die vierte Liebesschmerzphase: over.

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