Die Unwirtlichkeit unserer Städte - mit diesem inzwischen geflügelten Titel setzte in den siebziger Jahren der Frankfurter Soziologe und Psychotherapeut Alexander Mitscherlich seine Vermessungen der kollektiven Psyche der Deutschen nach außen fort, die er zuvor mit seiner Unfähigkeit zu trauern nach innen begonnen hatte. In die Tristesse dieser Jahre fühlt man sich zurückversetzt, wenn man die Plakate und Fotomontagen des jungen dänischen Künstlers Jakob Nolding im Hamburger Kunstverein betrachtet: graue Wohnburgen, öde Plätze, leere Treppenhäuser, müde Menschen - ein Leben in Waschbeton. Die russische Avantgarde startete einst mit voller Kraft, so der Titel der zeitgleich im benachbarten Museum für Kunst und Gewerbe ausgebreiteten Ausstellung zur russischen Avantgarde von 1910 bis 1934 in die Stadt der Zukunft - so nannte Georgi Krutikow eine seiner Zeichnungen. Kolding collagiert die snapshots der Ruinen des utopischen Aufbruchs der Moderne, den in Deutschland das Bauhaus propagierte, deren Ende und Übergang in die Zweite Moderne der 1999 verstorbene Kunsttheoretiker Heinrich Klotz damit begründet hatte, das sie zum "Vulgärfunktionalismus" und "Brutalismus" verkommen sei. "Ville Fantome" nennt der kongolesische Montage-Künstler und Modellbauer Bodys Isek Kingelez im Kunstverein ein Ensemble seiner bunt-verspielten Entwürfe für eine Stadt der Zukunft. Man kann sich den Hamburger Ausstellungsparcours als spannenden Bogen von der Klassik über die Postmoderne bis zum Pop spannen, in dem sich die Moderne nach dem Epochenbruch selbst be- und neu nach den verändernden Potentialen der Kunst fragt.
Die Idee einer menschlicheren Alternative hat sie nicht aufgegeben. Doch wie ein "Paradies auf Erden", das der 1948 geborene Künstler, der heute in Zaires Hauptstadt Kinshasa lebt, erklärtermaßen errichten will und das ähnlich optimistisch klingt wie in der russischen Avantgarde, sehen die bunten Türme, Stadien und Paläste eigentlich nicht aus, die er aus kleinen Plastikstücken, Pappe- und Verpackungsresten westlicher Markenartikel so phantasievoll zusammenklebt. Eher schon wie ein ironischer Abgesang darauf, wie eine längst vollkommen pervertierte Utopie nochmals kopiert und monströs aufgeblasen wird. Meist findet man sie in die Hauptstädte von Entwicklungsländern platziert. Wirklich bewohnbar erscheinen diese bizarren Agglomerationen nämlich auch nicht. Dazu lassen sie dem kleinteiligen, nichtplanbaren Alltagsleben zu wenig Raum. Kingelez' Entwürfe sind eine irritierende, sehenswerte Mischung aus Fantasie und Kritik. Die überbordende Semantik seiner barocken Formen, die hybride Mischung aus Baustilen aus der dritten Welt weisen ihn klar als Postmodernisten aus. Symbolisierte Tatlins Turm der Dritten Internationale noch das Verhältnis der Elemente im Kosmos, scheinen Kingelez Bauten gleichsam bewusst gegen die naturwissenschaftlichen Gesetze konstruiert. Er bricht mit dem strengen Funktionalismus der Avantgarde, deren russische Variante die Formensprache auf die Geometrie reduzierte - wenn man von den ständig wiederkehrenden Motiven Hammer, Sichel und Leninköpfen auf den schönsten Teeservicen, die jemals eine Revolution hervorgebracht hat, einmal absieht.
Stadt, Heimat, Lebensort, signalisiert Kingelez dagegen, sollen auch erzählen und Bedeutungen anbieten. Er schafft aber keinen neuen Ort, sondern gibt den alten der Lächerlichkeit preis. Evoziert aber immer auch das Erstaunen über ein ungehoben schlummerndes Formenreservoir. "Wenn der Westen sein Modell aufzwingt, gleicht das einem Diktat. Jeder muss dann an der Globalisierung teilhaben, die die ganze Welt revolutionieren wird" klagt er. Wenn er seine menschen- und bäumeleere Ville Fantome als "infrastrukturelles Rechenbrett" bezeichnet, klingt das wie eine Variation aus der Peripherie auf Klotz' Kritik an der "Rechenkästchenmoderne" des Zentrums, deren gebaute Ergebnisse ein "globales Unglück" über uns gebracht hätten.
Was den nüchternen Nolding und den fröhlich-selbstbewussten Kingelez eint, ist, wie sie die Dystopie dokumentieren, aber zugleich auch überschreiten. Denn auch der 1971 in Albertslund, einem Vorort von Kopenhagen geborenen Künstler nutzt die Versatzstücke des Aufbruchs vom Anfang des Jahrhunderts mit ihrem Pathos des Elementaren um einen Weg aus dem Gefängnis anzudeuten. Denn die Keilform, in die er seine Fotos von den Wohnwüsten der Vorstädten schneidet und mit Schlüsselbegriffen der kritischen Soziologie und Architektur übertitelt, scheinen fast haargenau jenen Beispielen der russischen Konstruktivisten nachgeahmt, die zwei Häuser weiter ausgestellt sind. Kolding überträgt die dynamische Raumerfahrung, die Lissitzky vermitteln wollte, in die erstarrten Städte, will sie quasi, wie der aufgeklebten "dub-version"-Aufkleber über einem Bild eines Treppenhauses anzeigt, mit Bruchstücken aus dem Pop-Diskurs zum Tanzen bringen. Hier agiert ein künstlerischer Einzelgänger, ohne Anspruch auf eine Führungsrolle in einer sozialen Bewegung. Wo in der Russischen Revolution eine analphabetische Masse von den Zielen der Revolution überzeugt werden musste, setzt Kolding auf das Bündnis von sozialer Peripherie und kritischer Wissenschaft. Will die schläfrige Masse aus dem Schlaf der Gewöhnung rütteln. Wo El Lissitzky auf ein Plakat von 1919 noch kraftvoll und ungebrochen die Richtung weisend "Schlagt die Weißen mit dem roten Keil" schrieb, rhythmisiert Kolding eher gebrochen, analytisch: "Spatial assemblages of Power - From Domination to Empowerment" (Räumliches Konglomerat von Macht - Von der Beherrschung zur Befähigung) zitiert er neueste Theorieansätze. "Man kann einen Menschen auch mit seiner Wohnung erschlagen" hatte der Berliner Zeichner Zille in den 20er Jahren noch etwas volkstümlicher zusammengefasst, was man heute Lebensraum als Geografie der Macht oder Soziogeografie nennen würde. Auf diese exclusive Funktion der modernen Stadt zielt auch Kingelez, wenn er seine "Ville Fantome" paradoxerweise den Reichen widmet. Keine Gefängnisse und keine Polizei braucht sie deshalb, weil sie als Ausschlussmechanismus angelegt ist, in dem die, die soziale Gegensätze herstellen könnten, erst gar nicht hereinkommen.
Die Ausstellung im Kunstverein ist ein brillianter Schachzug seines neuen Direktors. Der 36 Jahre alte Yilmaz Dziewior vervollständigt einen Generationenwechsel. Nach Udo Kittelmann in Köln oder Nicolaus Schafhausen in Frankfurt und neuen Chefs in Stuttgart oder Hannover übernimmt ein weiterer Vertreter einer jungen, ideologisch weniger festgelegten Generation von Kunstvermittlern eine Zweigstelle jener großen ästhetischen Bürgerinitiative namens Kunstverein, deren Entstehung sich Schillers ästhetischer Erziehung nachstrebendem Bürgertum des 19. Jahrhunderts verdankt und die in der Zivilgesellschaft der Postmoderne eine wichtige neue Rolle spielen könnte. Dziewior, charmanter und umgänglicher als sein spröder, hyperintellektueller Vorgänger Thomas Schmidt-Wulffen nimmt das Interesse einer Großstadt wie Hamburg für die wieder prekär gewordene Urbanität auf, startet seine Amtszeit mit einem (derzeit beliebten) interkulturellen Vergleich und beschert dem neugierigen Publikum auch noch einen der Künstler, die der neue documenta-Chef, der Afrikaner Okwui Enwezor, 2002 in Kassel als einen seiner favourites präsentieren wird. Dieses geschickte networking bedient das Bedürfnis des Publikums nach dem Sinnlichen. Verbannt aber nicht die sperrigere Konzeptkunst, die den Bürger eher kalt anlächelt.
Der neue Mann in Hamburg lässt sich als Vertreter einer sozialen Dimension von Kunst promoten. Das ist ungenau genug, um alles und nichts zu meinen. Übermäßiges sozialkritisches Interesse konnte man dem geschmeidigen und ehrgeizigen Dziewior in seiner Kölner Karriere bislang nicht nachsagen, wohl aber eines für unkonventionelle Ausstellungsformen und die allerjüngste Kunst. Um so interessanter, wenn nun von dieser Seite die Idee von Kunst als zeitgemäßer Gesellschaftskritik und -analyse wieder belebt wird. "Ich denke an eine bessere, friedvollere Welt" formuliert Kingelez den nicht totzukriegenden Gedanken, Kunst und Leben in eine mehr als formale Beziehung zu setzen. Für Dziewior sind, so intoniert er eine der schillernden Bekenntnisformeln des postideologischen Zeitalters, die "Ismen der Moderne fraglich" geworden. Ob er damit auch den resistentesten Ismus mit den Vorsilben Kapital gemeint hat? Natürlich ist die Suche nach der neuen Stadt die Metapher für den utopischen Ort. Für diese bessere Welt wird man womöglich mehr ändern müssen als nur Häuser. Aber auch die Börse steht in der Stadt.
Jakob Kolding, Bodys Isek Kingelez. Hamburger Kunstverein noch bis zum 6. Mai 2001, Katalog im Verlag Hatje Cantz, Stuttgart, 112 S., 38,- DM
mit voller kraft. Russische Avantgarde 1910-1934. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, noch bis zum 10. Juni 2001, Katalog in der Edition Braus, Heidelberg 2001, 318 S., 98,- DM
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