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Linksbündig Deutschland als Gastland der Frankfurter Buchmesse?

Eine Schande für unser Land. Wann immer man mit türkischen Schriftstellern spricht, hört man dieses Urteil. Einhellig sind sie der Meinung, dass "Paragraph 310" dem Ansehen ihrer Heimat schadet. Die längst zum geflügelten Wort geronnene Vorschrift des türkischen Strafgesetzbuches stellt die "Verunglimpfung des Türkentums" unter Strafe. Bislang konnten sich die Hüter der Freiheitsrechte im Westen noch erhaben dünken über solche Verirrungen verspäteter Demokratien wie der Türkei. Doch nach dem endgültigen Verbot von Maxim Billers Roman Esra durch das Bundesverfassungsgericht in der letzten Woche könnte das anders werden. Womöglich werden deutsche Vorzeigeliteraten ähnlich gewundene Bekenntnisse abgeben (müssen), wenn sie auf Messen in China oder Festivals in Afrika nach den Zuständen in ihrem Land gefragt werden: Das Urteil schadet Deutschland!

Der Unterschied zwischen dem Spruch von Karlsruhe und den Verhältnissen am Bosporus liegt auf der Hand. Niemand wird hier angeklagt, weil er die Ehre der heiligen deutschen Nation künstlerisch besudelt. Trotzdem gleicht sich die Lage. Mit dem Karlsruher Urteil, nach dem ein Kunstwerk um so fiktiver sein muss, je mehr es konkrete Personen als Vorlage benutzt, dekretiert eine außerästhetische Instanz, wann in Zukunft Kunst Kunst ist. Eine Unterdrückung der künstlerischen Freiheit ist das nicht. Aber eine Einschränkung, die der Zensur gefährlich nahe kommt. Von den Schadenersatzforderungen, die auf Autoren zukommen, einmal abgesehen. Vor allem geht die Schere im Kopf auf, wenn sich jemand entschließt, Details seines Lebens in "die andere Welt der Literatur" zu überführen. So dürfte sich Konstantin Wecker das Lob der Reduktion wahrscheinlich nicht vorgestellt haben. Freiheit, so die verblüffende These, mit der der Liedermacher in Frankfurt sein Buch Die Kunst des Scheiterns vorstellte, hat "etwas damit zu tun, etwas verlieren zu können".

Angesichts dieser Entwicklung kann man heilfroh sein, dass der Direktor der Messe, Jürgen Boos, dabei ist, seinen Laden gehörig umzukrempeln. Gegen Boos´ Strategie forcierter Politisierung sieht Gegenbuchmesse in einem verräucherten Frankfurter Café plötzlich wie ein Traditionalistenclub aus. Aber auch die lahmende Linke in Deutschland könnte sich von dessen Wagemut eine Scheibe abschneiden. Seitdem der frühere Verleger am Main das Sagen hat, begnügt sich die größte und wichtigste Buchmesse der Welt nicht mehr mit der Rolle des umsatzgeilen Handelsbarometers oder der Zeremonienmumie, die lautstark aber folgenlos die "Freiheit des Wortes" beschwert. Beherzt packt Boos heiße Eisen an: Neuerdings kümmern sich die Frankfurter um Analphabetismus und Menschenrechte, Zensur und Meinungsfreiheit, starten eine Alphabetisierungskampagne und halten Kongresse über die Zukunft der Bildung oder die europäische Identität ab. Mit der umstrittenen Entscheidung, in diesem Jahr mit Katalonien erstmals eine europäische Region zum Buchmessenschwerpunkt zu wählen, hat sie den europäischen Nationenbegriff in Frage gestellt. Seit zwei Jahren fördert Frankfurt Buchmessen in der säkularen und kulturellen Diaspora - in Abu Dhabi und Kapstadt. Leseförderung ist Demokratieförderung heißt das neue Motto.

Zyniker könnten sagen, dass die Speerspitze des Handels bloß ihrem von allerlei heimtückischen Medien in die Defensive gedrängten Produkt die Leser von morgen sichern will. Angeblich wissen 400 Millionen Chinesen noch nichts von ihrer künftigen Berufung. Doch selbst wenn es so wäre. Ohne Risiko ist Boos´ Strategie nicht, wie man am Auftritt der arabischen Länder 2004 in Frankfurt sehen konnte. Und wenn sich dort 2008 die Türkei vorstellen wird, sind die Konflikte ebenso programmiert wie 2009 - dann ist China an der Reihe.

Der sanfte Druck, der von dieser "Plattform für politische Diskussionen" (Boos) ausgeht, gibt ihrem Erfinder Recht. So fand die türkische Verlegerin Müge Gürsoy Gökmen in Frankfurt ein Forum, die 45 Verfahren anzuprangern, die 2006 in der Türkei wegen des berüchtigten Paragraphen 310 eröffnet wurden. Darauf angesprochen, nannte der neue türkische Kulturminister Ertugrul Günay die Vorschrift in Frankfurt ein "großes Problem" und kündigte eine Änderung an. Das Beispiel könnte Schule machen. Wenn es mit dem Ausbau der Kunstfreiheit in Deutschland so weitergeht, könnte die Buchmesse ja mal Deutschland als Gastland einladen. Oder wenigstens die autonome Region im Herzen von Karlsruhe.


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