Poetische Hochdruckkammer

Sommerlektüre Esther Kinskys Debüt-Roman „Sommerfrische“ ist ein Roman für Daheimgebliebene, die auch was vom Sommer haben wollen

Sandbänke im seichten Sommerwasser. Vom Flussufer kann man zu einer kleinen Auwaldinsel schwimmen. Der Fluss fließt unter Gebüsch. Die schütteren Baumgruppen, die ihn säumen, gehen unmerklich in verlassene Weingärten über. Überall stehen Lauben auf Stelzen und Holzhäuschen; am Ufer eine kleine Kneipe. Und über allem liegt eine sengende, lastende Hitze.

Schwer zu sagen, wo man sich hier befindet. Glaubt man Esther Kinsky, dann hat sie sich die Kulisse für ihren Debütroman von dem ostungarischen Grenzland zwischen Rumänien und Serbien abgeschaut, das die 1956 geborene Übersetzerin vor ein paar Jahren bereiste. Tatsächlich heisst die kleine Siedlung, in die sich die Bewohner einer nahegelegenen Provinzstadt flüchten, Üdülö. Die Männer nennen sich Antal oder Zoli, die Frauen Zsuzsa oder Marika. Doch ansonsten wirkt die kleine Welt ziemlich weltentrückt.

Auch Politik spielt dort keine Rolle. Überhaupt scheint die Zeit stillzustehen. Wenn der Erzähler nicht davon spräche, dass Drágán früher bei der landwirtschaftlichen Genossenschaft war und jetzt bei der „Agrocompany“ arbeitet; wenn nicht einmal von bulgarischen Lastwagenfahrern die Rede wäre – niemand käme auf die Idee, das Leben, das in diesem schmalen kleinen Debüt beschrieben wird, für den schalen Abglanz der postsozialistischen Depression im vergessenen wasteland des Dreiländerecks zu halten, der es wahrscheinlich abgeschaut ist. Sondern für eine existentialistische Parabel wie bei Albert Camus.

Sinnbild des Lebens

In ihr fungiert der Fluss als Sinnbild des Lebens: Mal schlängelt er sich durch's Ufergebüsch, mal legt er das „Scheinkleid seiner Sanftheit“ ab und reisst alles mit sich fort, mal trocknet er in der Hitze, die „das Land geknackt“ hat, aus, legt Abwasserrohre, Schlamm und Fäulnis frei.

An Sommerfrische fasziniert die Szenerie des Gewöhnlichen. Unaufdringlich entfaltet die 1956 geborene Kinsky, die als Übersetzerin arbeitet, ein proletarisches Milieu: Eisenbahner, Tagelöhner und Schrotthändler. Hier verkaufen die Menschen Melonen und Kalk. Es ist das Milieu der lärmenden „Kozakjungs“ und der Mädchen in Glitzersandalen. Es riecht nach Bier, Schweiß und Chlor im Klo. Und alle warten sie auf die „Große Erholung“, auf „ein lässiges Dahingleiten am Ufer des Sommers“. Wenn der Maurer Antal seiner Neuen Frau vorseufzt: „Lass uns in den üdülö fahren und den Sommer genießen. Am Fluss liegen. Die Augen schließen. Ich möchte nichts mehr sehen. Einmal nichts mehr sehen“ wird das eskapistische Motiv unübersehbar.

Üdülö ist also ein anderes Wort für das Glück des kleinen Mannes: Kühlkoffer, Kleingrills, laue Abende auf der Veranda. Doch wie jede kleine, scheinbar heile Welt, hat auch diese ihre Schattenseiten. Die „Neue Frau“, die der melancholische Antal in die Sommerfrische mitgenommen hat, riecht zwar nach Zitrone, spricht aber „schwerzüngig und offenlautig“ - wie die wortschöpferisch begabte Erzählerin findet. Am Ende kentert die Namenlose, die erst „am Ufer sitzt wie ein Fels“ auf dem See und ertrinkt. Das Fremde hat keine Chance in dieser Gruppe eingefleischter Freunde mit ihren festen Riten.

Vom Symbolgaften abgesehen: Das Faszinierendste an Sommerfrische ist die Sprache. Wenn Kinsky von den „Zwiebelkönigen der Ebene“, den „Melonenschiffern der Entwässerungsgräben“ spricht, poetisiert sie das Profane, bis man glaubt, in einem verwunschenen Land zu sein, in dem alles schwebt.

Weißgrau kam die Hitze

Und mehr als einmal verdichten sich Kinskys lose verbundenen Schicksale zu Bildern einer Endzeit: „So ging der Tag ein für allemal zu Ende, und Katica stand auf dem rissigen Beton am Tankstellenrand, die eine Schulter hochgezogen, die andere von ihrer Fensterputzfrauentasche nach unten gezerrt, so stand sie, von der Zeugenschaft des Abends tief erschöpft.“

Unwiderstehlich, sprachmächtig gelingt es Kinsky, den diffusen Zustand zwischen dem Glück des Moments und einer unartikulierbaren Verlorenheit einzufangen. Aber nicht nur das macht Sommerfrische zu einem prototypischen Urlaubsbuch. Sondern die sinnliche Qualität seiner Sprache. Denn hier glaubt man, die Hitze des Sommers am eigenen Leibe zu spüren: „Es war heiß, weißgrau kam die Hitze in diesem Sommer, fraß die Farben aus allem heraus, sogar aus dem Himmel.“

Die immer neuen Wendungen, in den Kinsky diesen Ausnahmezustand fasst: Vom „Ausbrand der Hitze“, der zur „Erschlaffung jeglicher Regung“ führt, bis zur „Landschaft, die sich unter der Sonne allmählich selbst vor Hitze verschlang“ machen aus dem Buch eine Art poetische Hochdruckkammer. Ein ideales Buch also für alle, die zu Hause bleiben müssen und trotzdem etwas vom Sommer haben wollen.

Roman, Matthes&Seitz, Berlin 2009, 122 S., 16, 80 E

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