Raum für Freiraum

Kulturkommentar Wo wohnt die Utopie? Ist das, was rund um die Kreuzberger Bar25 passiert, subkultureller Fortschritt? Was weiß die Berliner Stadtreinigung von Urbanität? Fragt sich Ingo Arend

Jeden Abend dasselbe Spiel: Auf einer kleinen Brücke in Berlin versammeln sich junge Leute und harren aus bis zum Morgengrauen. Obwohl alle nicht viel mehr tun als Reden und Rauchen, Musizieren und Balancieren, Trinken und Flirten, obwohl alle im Dreck sitzen, entwickelt das Geschehen eine magnetische Anziehungskraft bis ins europäische Ausland. Eine Stimmung liegt in der Luft wie bei Christos Reichstagsverhüllung 1995. Eine Stadt diskutiert: Soll man dem Spuk ein Ende bereiten? Oder die Leute gewähren lassen? Und überhaupt: Was geht da eigentlich ab?

Was an der Kreuzberger Admiralbrücke vor sich geht, passiert in diesem Sommer an vielen Stellen in Deutschland. Die Grenze zwischen pub crawl und dem großen Wort Utopie ist dabei oft fließend. Aber neben den Mechanismen des internationalen Partytourismus lässt sich bei den Vollversammlungen unter freiem Himmel eine Form primärer Gemeinschaftsbildung beobachten. Ein unartikuliertes Bedürfnis danach muss die Internationale der Hedonisten, die diese Versammlungen abhält, treiben. Und wenn der Streifenwagen der Polizei nachts auf der dicht besetzten Brücke nur millimeterweise vorankommt, meint man gar, eine Neigung zum zivilen Ungehorsam zu spüren. Dann verwandeln sich die verspielten Party-People für ein paar Sekunden in eine kritische Masse.

Was das Geschehen von der vielleicht zwei Kilometer Luftlinie entfernten Bar25 unterscheidet, ist die Zugänglichkeit. Das Gelände der weltbeliebten Location, die ein paar Freaks aus der Techno-Szene auf einem leeren Grundstück längs der Spree hochgezogen haben, ist mit Stacheldraht umzäunt. Und mancher kann ein Lied singen von der exklusiven Einlasspolitik, die die Türsteher an der „Höllenpforte“ betreiben, dem Eingang zur Bar.

Trotzdem hat sich hier in kurzer Zeit Erstaunliches entwickelt. Es gibt ein Hostel, einen Zirkus, ein Kino, einen Strand, ein Restaurant, sogar eine Sauna. Wer die Szenerie vom anderen Spreeufer aus beobachtet, erkennt: einen kleinen Kosmos, in dessen Mitte eine riesige Discokugel in einer Trauerweide baumelt. Man muss kein Berliner sein, um in diesem Spielplatz – neben allem Kommerz – auch die Sehnsucht nach einem anderen Leben zu erkennen, nach „Raum für Freiraum“, wie jemand in großen Buchstaben auf eine Häuserwand gepinselt hat.

Rechtschaffene Berliner sehen das anders: „Es ist kein alternativer Lebensentwurf, wenn man ein Gelände abzäunt und Getränke verkauft“, verteidigt Ingeborg Junge-Reyer, Berlins Stadtentwicklungssenatorin von der SPD, das drohende Ende einer typischen Berliner Zwischennutzung, in der selbst ein Spiegel-Reporter eine „Kommune“ erkannte, die eine Art „subkulturellen Fortschritt“ bewirkt. In zweieinhalb Monaten sollen die Betreiber das Gelände räumen.

Über Junge-Reyers Partei könnte man dagegen Ähnliches behaupten: Es ist noch keine alternative Politik, einen rosa Wowi ins Rote Rathaus zu setzen und das Spreeufer an Konzerne zu verkaufen. Welcher Art die Utopie ist, die die Bar25 demnächst ersetzen soll, ahnt, wer nur schon den Namen des Komplexes hört, den die Berliner Stadtreinigung, Eigentümerin des Geländes, auf den Sand setzen lassen will: „Spreeurban“. Schon seltsam, dass man in utopielosen Zeiten die Keime dieses nicht immer nachwachsenden Rohstoffs zertritt, anstatt sie zu entwickeln. Ist die SPD selbst nicht einmal aus so einer Wunschvorstellung entstanden?




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