Beherrschte Herrschende" hat der verstorbene französische Philosoph Pierre Bourdieu einmal die Intellektuellen genannt. Machtlos gegenüber der direkten exekutiven Gewalt, prägen sie doch Begriffe und Themen. Nichts hätte diese seltsame Zwitterstellung besser illustrieren können, als dass Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einem Treffen mit Schriftstellern im neuen Kanzleramt im Januar dem vortragenden Moralrat Günter Grass das Rotweinglas nachschleppte. Die scheinbar demütige Geste dem geistigen Stichwortgeber gegenüber entwickelte sich zum publicityträchtigen running gag, als der Kanzler sie wenige Wochen später im Haus der Berliner Festspiele mit Peter Schneider wiederholte. Die Politik als Wasserträger des Geistes?
Schröders demonstrative Treffen mit Grass oder Christa Wolf oder sein pompöser Intellektuellenbahnhof im Berliner Ensemble kurz vor der Wahl 1998 sollten das alte Historienbild einer besonderen Verbindung von SPD und Intelligenz polieren. Wie groß in Wahrheit das Desinteresse an deren kritischer Rolle ist, erfuhr Volker Braun. Als der beim Krisentreffen des Geistes zu Afghanistan im Kanzleramt vergangenen Herbst mit einem Anti-Kriegs-Gedicht gegen die rotgrüne Interventionsmanie protestierte, antwortete Schröder zwar mit einem Vers von Thomas Brasch. Der Krieg ging aber weiter. Und als des Kanzlers ideenloser Wiedergänger in Berlin vor kurzem sein Rotes Rathaus mit einer Dichterlesung zu einem "Raum intellektueller Auseinandersetzung" machen wollte, fiel dem Regierenden keine einzige Frage an die Geehrten ein. Auf einen Wink seines Kanzleichefs eilte alles zum Buffet. Klaus Wowereits Senat hatte gerade die Gelder für die Literaturförderung gekürzt. Warum teure Villen für die Literatur unterhalten, wenn man sich die Dichter auch nach Hause holen kann?
Die charmante Degradierung zu Hofnarren ist nur ein Effekt der Rollenprobleme von Intellektuellen nach 1989. Die Systemgrenzen nach innen und außen diffundierten. Das moralische Orakel war out. Gewiss rechtfertigt die globale Rebarbarisierung von Le Pen über Bin Laden bis zu Sharons Dschenin oder dem Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ein neues J´accuse. Doch wie schief der Versuch gehen kann, sich die alte Rolle des Präzeptors zurückzuerobern, zeigte der portugiesische Schriftsteller Jose Saramago. In dem rhetorischen Overkill, mit dem der linke Autor kürzlich Ramallah mit Auschwitz verwechselte, meinte man auch den Verzweiflungsschrei über die schwankende Bedeutung seines Standes mitzuhören. Nicht alle können sich mit der mythenumflorten Rolle des radikalen Systemopponenten anfreunden, wie sie der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said eisern hochhält. Auf die allerjüngste Generation ist die Magnetwirkung der Machtzentralen mit ihren leeren Skylobbys offenbar gewaltig. Dabei sein ist alles, sagten sich kürzlich junge Autoren um Wladimir Kaminer und Judith Hermann, als sie sich nach Schröders Treffen mit ihren Altvorderen selbst ins Kanzleramt einluden. Statt nach den Sternen griffen sie da dann aber zu Kartoffelsalat mit Kanzlersülze. Auf intellektuelles Urgestein wie Günter Grass schaut diese Generation mit dem belustigten Respekt des prähistorisch interessierten Italien-Touristen: Mal gucken, ob der Vesuv tatsächlich noch spuckt. Die alte Heldenrolle spielen sie nur noch mit Bauchschmerzen. Mit dem Satz: "Ich wäre gern ein unpolitischer Autor" machte ausgerechnet Saids jüngerer Kollege Salman Rushdie die ungeliebte Stellung zwischen Ästhetik und Politik deutlich. Was für den einen Berufung war, ist für den anderen heute Zwang.
Zwar scheint sich in den USA im Streit um den "gerechten Krieg" die Wiederkehr des politischen Intellektuellen anzubahnen. Hierzulande hält er sich bedeckt. Auch wenn sich Oskar Lafontaine jetzt Attac angeschlossen hat. Als sich vor ein paar Wochen jüngere deutsche Schriftsteller in Grassens westfälischem Telgte trafen, um über ihre Haltung zu Krieg und Terror zu diskutieren, musste die Öffentlichkeit draußen bleiben. Fachöffentlichkeit hieß die Devise schon im vergangenen Jahr zum klammheimlich ins Private verlegten Berliner Schriftstellertreffen "Tunnel über der Spree". Theodor Fontane hatte es noch explizit zur Gesellschaft geöffnet. Bloß keine Kontroversen nach außen dringen lassen werden sich die Jungschriftsteller oder Matthias Polityckis Literatur-Zirkel auf Schloß Elmau gedacht haben. Da lobt man sich doch Matthias Greffrath. Der Berliner Publizist mit seiner nostalgischen Liebe zur moralischen Anstalt Theater versammelt seit einiger Zeit in Thomas Ostermeiers tekknoider Berliner Schaubühne einen intellektuellen think-tank gegen Globalisierung und Neoliberalismus. Von Joseph Stiglitz bis Daniel Cohn-Bendit tummelt sich hier aber vor allem altmännliche Gegen-Expertise. Der dramatische Nachwuchs dagegen schweigt und genießt. Berlins charmantester Feuilleton-Plauderer Moritz Rinke, wiewohl Kritiker der abgeschotteten Republik Vineta, spielt lieber Tennis mit dem Kanzler.
Die Intellektuellen also existieren nicht mehr. Auch wenn sie die legitimationssüchtige Politik noch einmal als die große moralische Instanz re-inszeniert. Warum sollten Individualisierung und Differenzierung sie verschont haben. So viele Intellektuelle, so viele Rollen. Von Pierre Bourdieus mit großem Getöse aus der Taufe gehobenen, korporatistischen "Generalständen für ein soziales Europa" ist nicht zufällig wenig zu hören. Das muss der Kraft des Differenzierens keinen Abbruch tun. Lasst tausend Debatten blühen! In autonomen Räumen. Statt Otto Schilys restriktive Einwanderungspolitik zu bemänteln. Das wird um so notwendiger, je mehr Rotgrün in Europa dem rechten Populismus nur ein pragmatisches: Weiter So Neue Mitte! entgegen hält. Die euphemistische Vokabel "Multikultur" ist kein Gegenbeispiel für die These, das die prägenden Begriffe nämlich längst von der anderen Seite stammen: Deregulierung und Flexibilisierung entstammen der Sprache der unbeherrscht Herrschenden. Und neben den spin-doctors der Ökonomie bestimmen heute die Medienintellektuellen Themen und Begriffe. Wenn Peter Hacks die deutsche Klassik hochhält, interessiert das keinen, wenn Harald Schmidt aus Langeweile plötzlich im Bildungsbürgertum stochert, wird eine Zeitenwende ausgerufen. Was hätte Schröder, der gern durch die Talk-Shows tingelt, gesagt, wenn der Entertainer, der inzwischen dem Ensemble des Bochumer Schauspiels angehört, oder Sandra Maischberger dem gefärbten Kanzler beim Afghanistan-Einsatz den medialen Stinkefinger gezeigt hätten?
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