Rousseau am Rhein

Gesellschaftsvertrag Peer Steinbrück versucht sich als Sozialphilosoph

Aufklärung pur. Das war es also, was Peer Steinbrück umtrieb in Nordrhein-Westfalen. Wochenlang hatte man sich verwundert gefragt, warum der Mann diese rätselhafte Koalitionskrise vom Zaun gebrochen hatte. Jetzt vertraute der stille Denker einer Berliner Zeitung an, welch großen Plan er insgeheim hegte. Die SPD, ließ sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident da vernehmen, müsse "einen neuen Sozialkontrakt, frei nach Rousseau" schaffen. Rot pur, Rousseau pur. Ein Philosoph an der Macht!

Allzu lange haben wir auf intellektuelle Physiognomien wie die von Jürgen Habermas mit ihrem ausgeleierten Sozialstaatsgerede gestarrt. Heute trägt die politische Philosophie in diesem Land das Gesicht der Bürovorsteher. Wahrscheinlich ist uns deswegen in seiner langen Laufbahn nie aufgefallen, mit welcher Inbrunst Peer Steinbrück Jahr um Jahr in der totesten Zelle der Republik, dem "lebendigen" Ortsverein der SPD, und in diesem anderen toten Briefkasten namens Parteitag für seine zündende Idee gekämpft und gekämpft hat. Wie er als Vordenker der SPD-Grundwerte-Diskussion wieder und wieder "Rousseau!" gerufen hat. Wie er ein ums andere Mal seinem Bürochef Johannes Rau den neuen Sozialkontrakt in die Klarsichthüllen gelegt und alle seine Ämter angewiesen hat, nur ja ordentlich im Sinne Rousseaus zu verwalten.

Im Ernst: Peer Steinbrück ist im Netz der Seilschaften und politischen Verschiebebahnhöfe der SPD groß geworden. Irgendwann einmal ist dieser klassische Referent ohne Eigenschaften, der er auch nicht immer bleiben wollte, dann durch eine gerade offene Bürotür auf ein gerade freies Amt geschoben worden. Und schließlich hat ihn ein politischer Zufall nebst politischem Druck in das Amt des Ministerpräsidenten im Kernland der SPD gespült. Eine Karriere, wie sie nur in einer sehr philosophenarmen Partei möglich sein kann. Die vermaledeite Ochsentour der SPD ist zwar eine beliebte Folter der Traditionalisten für Selbstdenker und Abweichler. Sie hat aber den Vorteil, dass sie programmatisch doch manchmal "erdet". Diese Erdung fehlte Steinbrück. Anders ist es kaum zu erklären, dass der Beförderte - kaum steckte er in den zu großen Schuhen - so grandios stolperte. Und dieser verunglückte Koalitions-Macchiavelli will jetzt der neue Rousseau der SPD werden?

"Wertorientierte Abgrenzung zwischen Eigenverantwortung und kollektiver Sicherung" hat der Rousseau vom Rhein seinen neuen Contrat Social so schön wie ungenau genannt. Nur, wie baut der Polier Schröder, derweil der Philosoph Steinbrück noch auf der Suche nach der Metaphysik ist? Erst mal alle Gleichgewichte einreißen! Die paritätische Krankenversicherung gehört zum Kern des bundesrepublikanischen Klassenkompromisses, der unter dem Spitznamen "Rheinischer Kapitalismus" ein paar Jahrzehnte gar nicht schlecht funktioniert hat. Wenn ihn die SPD weiter so demontiert, kann sie nur noch den Sozialkontrakt unterschreiben, über den der echte Rousseau schon 1755 höhnte: "Ihr bedürft meiner, denn ich bin reich und ihr seid arm; lasst uns also ein Abkommen treffen: Ich werde gestatten, dass ihr die Ehre habt zu dienen, unter der Bedingung, dass ihr mir für die Mühe, die ich mir mache, euch zu kommandieren, das Wenige gebt, was euch bleibt."

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