"Der Linken fehlt es an einer Krise". Wer diesen Satz von Roberto Mangabeira Unger liest, fragt sich, ob der Mann noch alle Tassen im Schanken hat. Ist die Linke nicht in der größten Krise seit ihrem Bestehen? Wirkt sie seit dem Epochenbruch von 1989, trotz vereinzelter Erfolge, nicht desorientiert und ziellos; wütend, aber ohne Konzept? Würde diesem bedauernswerten Patienten der Weltgeschichte noch eine Krise nicht endgültig den Todesstoß versetzen?
Es klingt nach Katastrophenpädagogik. Aber es ist nicht so gemeint. Auf diese Holzhammermethode des historischen Fortschritts setzt der brasilianische Politologe gerade nicht. Denn er will ja weg davon, dass die Linke immer erst eine Katastrophe braucht, um über neue Formen einer sozialen Gesellschaft nachzudenken. Das Ziel des 1947 in Rio de Janeiro geborenen Mannes ist eine Gesellschaft der "ständigen Transformation". Mit diesem Perpetuum mobile glaubt er, jähe Systemwechsel überflüssig zu machen.
Die salomonische Idee einer Fusion von Reform und Revolution, die Unger in seiner programmatischen Streitschrift Wider den Sachzwang entwickelt, weist ihn unverkennbar als reformistischen Linken aus. Mit seinem Versuch, eine "radikale Alternative zum Marxismus" zu entwickeln, wie er gleich im Vorwort schreibt, ist er vor allem in der angelsächsischen Wissenschaftlergemeinde bekannt geworden. Dabei entstammt Unger einer sozialistischen Politikerdynastie Brasiliens. Ende der sechziger Jahre studierte er im amerikanischen Harvard. Als der Militärputsch in seiner Heimat 1970 die Rückkehr unmöglich machte, blieb er dort und wurde mit 22 Jahren der jüngste Professor der Elite-Uni jemals. Unger gehörte zu den Mitbegründern der Critical Legal Studies, die sich auf Marcuse und Adorno berufen. 1997 gab er seine Professur auf, um als freier Politikberater wieder in Brasilien zu arbeiten.
Die New York Times sieht den in Deutschland weitgehend unbekannten Unger in einer Reihe mit europäischen Denkern wie Hans Blumenberg, Jürgen Habermas und Michel Foucault. Wer sein Büchlein gelesen hat, wird an diesem Ranking zweifeln. Das mag an der holprigen Übersetzung liegen. Das mag aber auch an der Neigung des Autors zu Wiederholungen und Redundanzen liegen. Und an seinem jähren Wechsel zwischen emphatischer und nüchterner Rhetorik. Mal propagiert er die "Vergöttlichung" des Menschen, mal sorgt er sich um die "Erhöhung des Steueraufkommens in den USA". Mal bezeichnet er die Neuausrichtung der Linken als "groß angelegtes Projekt", dann geht es ihm wieder um kleine, machbare Schritte jenseits der ganz großen Revolution.
Hinter Ungers revolutionärem Wortgeklingel von der "allgemeinen Häresie" und dem "experimentellen Avantgardismus" hört man schnell die alte Idee vom Dritten Weg heraus. Etwa wenn er der Sozialdemokratie, seinem Hauptadressaten, einen Mittelweg zwischen Staatsgläubigkeit und Neoliberalismus empfiehlt. Es wundert also nicht, dass sich seine Konzepte von Umformung und Neugestaltung als ziemlich kompatibel mit dem entpuppen, was hierzulande unter dem Stichwort "Effizienzrevolution" diskutiert wird: "Kooperation einer bestimmten Art", so Unger, "setzt das transformative Potenzial von Wissenschaft und Technologie frei". Dergleichen hätte auch von Sigmar Gabriel stammen können.
Am überzeugendsten klingt der selbsternannte 68-er Unger noch da, wo er vom Staat fordert, neue soziale Dienstleitungen zu kreieren, die "Elite der Erben" zu enteignen und die Märkte dadurch zu demokratisieren, dass der Staat für neue Produkte umgehend neue Märkte gegen die alten schafft. Die Linke in Europa will den Markt ja immer kontrollieren. Lasst 1000 Märkt blühen! - so könnte man den Sozialismus des Herrn Roberto Unger vielleicht am besten zusammenfassen. Wobei auch hier unscharf bleibt, wie sich das von der neoliberalen Idee unterscheidet, alles dem Markt zu unterwerfen.. Andererseits: So viele linke Denker, die mit neuen Ideen Wege aus der linken Misere suchen, gibt es nun auch wieder nicht. Zumindest von der konzeptionellen Phantasie Ungers könnten sich viele Linke hierzulande eine Scheibe abschneiden.
Am meisten beeindruckt Unger freilich dort, wo er der linken Suche nach einer neuen Politik eine kulturelle Dimension gibt. Es klingt ungewohnt, wenn ein Sozialwissenschaftler den Kampf um die Neuausrichtung der europäischen Linken als "Kampf um Charakter und Erfahrung" definiert und unsere "Alltagserfahrung intensivieren" will. Trotz seiner Plädoyers, die Marktwirtschaft neu zu erfinden, legt Unger nämlich kein streng materialistisches Fundament für seine neue Linke, sondern ein romantisches. Hier spürt man den Staatskeptiker am deutlichsten.
Im Kern geht es Unger um die "Vision nicht realisierter menschlicher Chancen". Der Politologe will, man sollte sich die aufregende Formulierung auf der Zunge zergehen lassen, "unsere konstruktive Energie so ausstatten, dass der Kontrast zwischen der Intensität unserer Sehnsüchte und der Armseligkeit, mit der wir unser Leben vergeuden, verringert wird". Das Modell für dieses Ziel bezieht Unger sage und schreibe aus dem europäischen Roman. Im Kampf gegen ihr gesellschaftliches Schicksal, so der Politologe, veränderten sich dessen Protagonisten bei ihrem Streben nach einem besseren Leben allmählich selbst. Auch wenn das sehr nach dem bürgerlichen Konzept vom individuellen Helden klingt, wo kollektiver Kampf womöglich aussichtsreicher wäre. Aber es hat schon etwas für sich: Die pluralistische, partizipative und experimentierfreudige "Hochleistungsdemokratie", die Unger anstrebt, steht und fällt mit Menschen, die sich wirklich einbringen wollen und das auch können, weil sie etwas können.
Man sollte sich nicht davon abschrecken lassen, dass vieles bei Unger an das erinnert, was in der SPD in Deutschland gerade unter dem Stichwort "vorsorgender Sozialstaat" diskutiert wird: nicht nachträgliche Umverteilung, sondern frühzeitige Befähigung. Aber stärker als jede Reform von Hartz IV oder papierene Konjunkturprogramme es je könnten, trifft der Politologe, so wie er auf "das ganz reale Wesen Individuum" setzt, den heißen Kern eines tief verwurzelten Begehrens. Denn wer von uns hat nicht schon oft das Gefühl gehabt, er könne größer, kreativer, leistungsfähiger sein, als es die miesen Verhältnisse zulassen?
Roberto Mangabeira Unger: Wider den Sachzwang. Für eine linke Politik. Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Wolff. Wagenbach, Berlin 2007, 1729 S.,
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