Schreib, was Du willst!

Pioniere Südafrikas schwieriger Weg zur Lesegesellschaft

"Ich will nicht, dass Südafrika eine dieser gescheiterten Demokratien wird, von denen es auf dem Kontinent schon so viele gibt". Als Kapstadts neue Bürgermeisterin Helen Zille vor kurzem auf die Frage eines Journalisten antwortete, warum sie Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt werden wollte, horchte man auf. Die eher unscheinbare weiße Politikerin, eine ehemalige Journalistin hat eine schwarze ANC-Politikerin aus dem Amt verdrängt. Die resolute 55-Jährige, Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland, neigt nicht zu Übertreibungen. Ist die Demokratie in Südafrika denn gefährdet?

Bislang pries man den Staat an der Südspitze Afrikas gern als Musterbeispiel postkolonialen democracy-buildings. Die südafrikanische Wahrheitskommission hat sich zum Exportschlager in Sachen Aufarbeitung einer Diktatur entwickelt, die Wirtschaft boomt, das Land ist ein Touristenmagnet. Über allem schwebt das Bild des lächelnden Nelson Mandela, dem weltweit verehrten Idol friedlichen Wandels. Und wer in der malerischen Walker Bay, anderthalb Autostunden östlich von Kapstadt, dort, wo der Indische und der Atlantische Ozean zusammenfließen, den silberglänzenden Leib des lange vom Aussterben bedrohten Glattwals mit der charakteristischen Schwanzflosse aus den Fluten schießen sieht, der wird Südafrika tatsächlich für das Paradies halten, zu dem es viele heute schon machen wollen.

Doch der Schein trügt. Gegen die Imagewerte des schönsten Landes am anderen Ende der Welt nehmen sich seine Kulturwerte weniger freundlich aus. Schon auf dem Pen-Kongress Ende Mai in Berlin warnte Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer vor der Zeitbombe des wachsenden Analphabetismus der führenden Nation auf dem schwarzen Kontinent. 17 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre gelten als Analphabeten. Wenn "Lesen ein zentraler Aspekt der Demokratie" ist, wie der Literaturprofessor Andres Oliphant auf der 1. Internationalen Buchmesse Mitte Juni in Kapstadt sagte, weil es im Argumentieren und Imaginieren übt, muss man sich um demokratisches Bewusstsein sorgen in Südafrika. Von seinen rund 45 Millionen Einwohnern bezeichnen sich nur gut eine Million im engeren Sinne als Leser. Nur die Hälfte von ihnen, so offizielle Umfragen, kauft jedes Jahr im Durchschnitt ein (!) Buch.

Das schwarze Loch der Illiteralität in Schwarzafrika kommt nicht überraschend. Jahrzehntelang hatte an der Südspitze des Kontinents der Befreiungskampf Vorrang vor der Bildung. "Liberation but Education" hieß der Slogan des zu Beginn des letzten Jahrhunderts gegründeten ANC. An seiner Spitze standen die Lyriker Pixley KaI Seme und John L. Dube, die ihre Verse noch im viktorianischen Englisch schrieben. Eine ganze Generation ist der Lesegesellschaft am Kap mit diesem Motto verloren gegangen. In dieses Vakuum stoßen nach dem Sturz der Apartheid die Unterhaltungselektronik und die Trivialliteratur. "Wenn es stimmt, dass eine Nation wird, was sie liest", witzelte der südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel zur Messeeröffnung, "bin ich etwas verunsichert". Ganz oben auf der Liste stehen Platters Wein-Führer und Dan Browns Da Vinci Code. Publikums-Renner auf der Messe war das Kochbuch Rainbow Cuisine.

Ob das vor Jahresfrist vereinbarte Joint Venture des südafrikanischen Verlegerverbandes und der Frankfurter Buchmesse diese Zangenbewegung aufhalten kann, muss sich erst noch zeigen. Zu weiß, zu westlich, zu kommerziell, zu von oben aufgesetzt wirkte die erste Ausgabe dieses wichtigen Projekts. Während im Land mit dem Slogan "black empowerment" in Wirtschaft, Politik und Verwaltung der Versuch unternommen wird, Schwarze in Schlüsselpositionen der Gesellschaft zu hieven, hatte man auf dieser Buchmesse nicht selten das Gefühl, auf einem Business-Meeting in Frankfurt oder London zu sein. Wenn nicht die schwarze Autorin Werewere-Likin von der Elfenbein-Küste den von einem japanischen Industriellen gesponsorten Noma-Award verliehen bekommen hätte, eine Art Nobelpreis der afrikanischen Literaturen, wenn nicht eine Übersetzung von Saint-Exupérys Der kleine Prinz auf Zulu vorgestellt worden wäre - niemand hätte in dem hochmodernen Kongresszentrum aus Stahl und Glas zwischen dem Tafelberg und dem zu einer Shoppingmeile umgebauten Hafen Kapstadts gemerkt, dass die Messe in Schwarzafrika stattgefunden hätte, so wenig schwarze Autoren und Verleger waren hier zu sehen. Doch gerade sie bräuchten in Zukunft eine Plattform, weniger die Global Players Random House oder Pengouin Books und ihre südafrikanischen Pendants Naspers und media24, die das Bild der Messe dominierten.

Immerhin hat das von der südafrikanischen Sunday Times gesponsorte Event den Keim für eine literarische Öffentlichkeit gelegt, die in Südafrika im Verborgenen blüht: in privaten Nachbarschafts-Buchclubs oder auf Inseln wie Clarke´s Bookshop. In einem kleinen, verwinkelten Reihenhaus am schmuddeligeren Ende einer belebten Kapstädter Einkaufsstraße stapeln sich vom ersten Treppenabsatz bis unter das Dach Bücher, Bücher, Bücher. Vom Cricket-Handbuch des Commonwealth aus dem Jahr 1976 bis zum Standardwerk On postcolony des Kameruner Historikers Achille Mbembe ist hier alles zu erwerben, was passionierte Leser begehren. Henriette Daks, die Besitzerin des 1956 gegründeten Geschäfts, fährt einmal im Jahr zehn Tage mit dem Auto nach Mozambique, nur um Bücher einzukaufen, die sie in Südafrika nicht bekommt. "Ich finde es wunderbar, dass Leser und Autoren aus aller Welt jetzt einmal im Jahr hierher kommen", beteuerte die freundliche ältere Dame deutschen Verlegern und Journalisten, die sie anlässlich der Buchmesse besuchten.

Doch nicht nur weiße Intellektuelle freuen sich. "Es ist noch nicht lange her, dass ich mir in einer öffentlichen Bücherei kein Buch ausleihen durfte", erinnert sich einer der großen alten Männer der südafrikanischen Literaturen, der 1936 geborene schwarze Autor Lewis Nkosi bei der Eröffnungszeremonie mit bewegter Stimme an die gerade mal zwölf Jahre zurückliegende Apartheidzeit. "Sie haben die Weltkultur dorthin zurück gebracht, wo sie hingehört: Zu den Menschen von Afrika". Angesichts der Tatsache, dass die schwach entwickelte Lesegesellschaft in Südafrika auf Anhieb keinen ökonomischen Erfolg verspricht, kann man der Frankfurter Buchmesse die politische Begründung für ihr Projekt also durchaus abnehmen. Demokratieförderung durch Leseförderung - die Cape Town Book Fair ist trotz ihrer (behebbaren) Mängel eine rare Pionierleistung kultureller Entwicklungszusammenarbeit. Nicht umsonst fand die Eröffnungszeremonie am 16. Juni statt. An diesem Tag jährte sich der Aufstand von Soweto. Vor genau 30 Jahren erhoben sich die Schüler und Studenten des Townships bei Johannesburg gegen die Verfügung des Apartheidregimes, das burische Afrikaans als Einheitssprache in Schulen und Universitäten zu oktroyieren. Bei viel politischem Goodwill wollte sich die südafrikanische Regierung nicht lumpen lassen und kündigte an, dass sie in den nächsten drei Jahren umgerechnet rund 130 Millionen Euro für die notleidenden öffentlichen Bibliotheken im Lande bereit stellen will. Angesichts dieses spannenden Kontextes war es umso enttäuschender, dass kein namhafter deutscher Verleger die Chance nutzte, sich persönlich über die umbrechende Kulturlandschaft am Kap der Guten Hoffnung zu informieren.

Denn wenn etwas überrascht an den zeitgenössischen Literaturen Südafrikas, dann ihr Perspektiv- und Generationenwechsel. Während das europäische Südafrika-Bild noch immer von Legenden wie der ernsten Nadine Gordimer, dem weißen Südafrikaner Breyten Breytenbach oder dem zweiten Literaturnobelpreisträger, Literaturprofessor J.M. Coetzee geprägt ist, geht die junge südafrikanische Literatur so unübersehbar auf Distanz zu diesen Leitfiguren wie junge deutsche Literaten zu ihrem Übervater Günter Grass. Dass beim diesjährigen, auf der Messe feierlich verliehenen Book Award der Sunday Times der Mittdreißiger Andrew Brown an zwei Favoriten Gordimers vorbei auf die Shortlist des Award zog, war kein Zufall.

Browns preisgekrönter Roman Coldsleep Lullaby ist ein Kriminalroman, bei dem es um sexuelle Nötigung geht. Die jüngeren Autoren wollen die im kulturellen Kampf gegen die Apartheid verloren gegangene Formenvielfalt der Literatur zurückerobern und üben sich in populären Genres. Wenn sie sich politisch engagieren, dann entlang der neuen Widersprüche der "Regenbogennation", die jeder mit dem Händen greifen kann, wenn er die klimatisierten Zitadellen der Globalisierung verlässt: Drogen, Kriminalität, die Explosion der alltäglichen Gewalt. Den viel beachteten Sachbuchpreis der Times erhielten zwei schwule Prominente für aufrüttelnde Erfahrungsberichte über ihre Infektion mit AIDS, einer von ihnen immerhin Richter am obersten südafrikanischen Appelhof.

Für viele, wie die 1976 geborene Journalistin Lauren Beukes, die gerade einen Porträtband unbekannter Südafrikanerinnen vorgelegt hat, haben die neuen Klassenschranken die alten Rassenschranken abgelöst. Ohne zu zögern, spricht die junge Frau von einer "neuen, ökonomischen Apartheid". Wie sich die Konfliktlage geändert hatte, konnte man schon an der Verfilmung von Athol Fugards in den sechziger Jahren geschriebenen, aber erst 1980 veröffentlichten Roman Tsotsi sehen, vergangenen Herbst in Hollywood mit einem Oscar bedacht. Regisseur Gavin Hood verlegte die Geschichte um den Anführer einer kriminellen Jugendbande, der durch den Fund eines Babys zu einem verantwortungsvollen Leben findet, von einem Konflikt schwarz-weiß in einen Konflikt schwarz-schwarz, angesiedelt im Südafrika nach der Apartheid.

Doch politische Themen sind nicht mehr die erste Wahl. In seinem im letzten Jahr auf deutsch erschienen Roman Die Madonna von Excelsior (Freitag 42/2005) hatte der 1948 geborene Autor Zakes Mda noch die Bigotterie des Apartheidsystems angeklagt. In seinem neuen Roman Whale Caller erzählt er von der amour fou eines pensionierten Walrufers an der Walker Bay zu einem der maritimen Säugetiere, den er zärtlich Sharisha nennt. "Die südafrikanischen Autoren haben jetzt das Joch der Geschichte abgeworfen, das sie beim Schreiben eingeengt hat" freut sich die Direktorin der Buchmesse Vanessa Badroodien. Und der junge nigerianische Autor Segun Afolabi sekundiert auf der Buchmesse: "Schreibt, was du willst", rät er einem südafrikanischen Kollegen bei einer Lesung.

Wie man diese neue Freiheit auch nutzen kann, zeigt das Beispiel William Gumedes. Der junge, preisgekrönte südafrikanische Journalist, einer der Begründer des "Buschradios", hat eine politische Biographie des südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki geschrieben, der 2007 aus dem Amt scheidet. Der im ANC und in der schwarzen Studentenbewegung gegen die Apartheid groß gewordene Autor beschreibt, wie Mbeki die einstige Befreiungsbewegung mit willfährigen Gefolgsleuten ruhig gestellt und ganz auf seine Person zugeschnitten hat. Und Gumede kritisiert Mbekis "stille Diplomatie", wenn es um das Regime Robert Mugabes in Zimbabwe geht. "Man ist in diesem Lande nicht an politische Kritik gewöhnt", sagt der vor Energie sprühende Autor im Gespräch und bestätigt damit den Befund von Bürgermeisterin Helen Zille: "Der ANC hat die Funktionsweise einer Opposition nicht begriffen". Gumedes Buch hat die Granden der seit zwölf Jahren regierenden Partei und der Gewerkschaft aufgeschreckt. Wenn in einem Land, in dem 5.000 verkaufte Exemplare schon einen Bestseller ausmachen, von einem so unbequemen Buch 30.000 Exemplare verkauft werden, ist das gewiss ein Hoffnungsschimmer. Solange widersprochen wird, das darf man aus Gumedes unerwartetem Erfolg schließen, ist die Demokratie noch nicht gefährdet.


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