Schweine

Eigensinn Annie Proulxs viertes Buch: "Mitten in Amerika"

Ich bin die Mitte Amerikas." Soll man die Anmaßung für bare Münze nehmen, mit der der amerikanische Entertainer Bob Hope vor kurzem seinen 80. Geburtstag bejubelte? Besteht die amerikanische Provinz aus rechten Republikanern mit einem tiefen Hass auf alles Liberale? Als der Spiegel-Reporter Alexander Osang im Frühjahr diesen Jahres ins texanische Midland reiste, der Heimat George W. Bushs, fand er tatsächlich die Klischee-Patrioten, wie sie sich der Europäer in den USA so wünscht: weißhaarige Damen mit Stars-and-Stripes-Brillen, die sich die Zehennägel in den amerikanischen Farben lackieren und die Bush-Trommel rühren.

Auch in Mitten in Amerika lässt Annie Proulx diese Urviecher des xenophoben Patriotismus auftreten. Im Panhandle, einer gottverlassenen Ecke im äußersten Nordzipfel von Texas, dem die amerikanische Bestsellerautorin in ihrem neuesten Roman ein Denkmal setzt, empfängt Bob Dollar aus Denver auf den Ranchzäunen die Aufschrift: "Eindringlinge werden erschossen. Überlebende verfolgt". Der junge Handlungsreisende, der mit einem speziellen Auftrag in den platten Landstrich aus Windhosen und Staub an der Grenze zu Oklahoma reist, ist also gewarnt. Hier feiert man Stacheldrahtfeste, schätzt Kirchenlieder und beerdigt seine Angehörigen in der amerikanischen Flagge. Und doch lässt die 1935 geborene Autorin ihre skurrilen Gestalten im amerikanischen Herzland auf humane Weise an ihrem Land hängen. Das bekommt Dollar nach und nach zu spüren. Denn der Uniabsolvent soll hier für den japanischen Agrarkonzern Global Pork Rind nach Grundstücken für Schweine-Mastfarmen suchen - das Feindbild für texanische Cowboys schlechthin.

Unmerklich gerät Dollar in den Bann einer nahezu unbewohnbaren Gegend, die flacher als flach ist, aber eine hochkomplexe Geschichte beherbergt. Mit dem Reisetagebuch eines Leutnants der US-Armee aus dem Jahr 1845 bewaffnet, von den Bewohnern mit immer neuen Histörchen versorgt, verstrickt er sich tiefer und tiefer in die Geschichte des unspektakulären Landstrichs, bis er seinen Auftrag fast vergisst. Vom Steppenland der Bisons über die Rinderzucht bis zu den Öltürmen entsteht vor Bobs Augen aus tausend kleinen Lebensgeschichten die Geschichte der industriellen Deformation des amerikanischen Traums. So detailreich wie Proulx dabei die Kulturgeschichte des Cowboys, der Präriegräser oder der Landmaschinen entfaltet, droht das den Entwicklungsroman eines orientierungslosen Helden oft zu erschlagen. Wie die meisten epischen Realisten der amerikanischen Literatur hat die Autorin oft Schwierigkeiten, ihres Materials Herr zu werden. Und wie bei ihren jüngeren Wiedergängern Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides bedeuten diesem Erzählen die Dinge die Dinge und kein symbolisches Gramm mehr. Zudem gerät Proulxs Geschichte gegen Schluss an den Rand einer Retro-Utopie mit ziemlich viel wishful thinking - in der Figur des kauzigen Ex-Cowboys Ace Crouch, der mit unversehens verdienten Petrodollars Bobs Konzern die riesigen, unrentabel gewordenen Ranches vor der Nase wegkauft und die Prärie wieder öffnen will. Doch ohne den leisesten Anklang an eine nostalgische Heimatidylle ist Proulx trotzdem die lesenswerte Geschichte eines verschlagenen regionalen Eigensinns gegen die globale (Uni)formierung gelungen.

Diesen Eigensinn verfolgen die Panhandler durchaus rabiat. Insofern bestätigt Proulx den amerikanischen Militärpublizisten Ralph Peters, der in dem derzeitigen transatlantischen Grabenkampf Europa stolz das antiaufklärerische Motto entgegen hielt "Die Texaner sind keine Relativisten". Kritische Distanz zu sich selbst, wie sie Jeffrey Eugenides bei den Deutschen und Jürgen Habermas gerade als europäische Tugend pries, steht bei ihnen nicht sehr hoch im Kurs. Im Panhandle maßen die Cowboys noch vor ein paar Jahrzehnten die Beckenbreite ihrer Bräute vor der Hochzeit mit dem Axtstiel aus. Und Alexander Osang las auf den Autos in Midland: "Protestler sind Verräter". Die Texaner ähneln vielleicht dem Reagan-Freund Bob Hope. Doch die alteuropäische Kulturtechnik des Erinnerns und ein Gespür für menschliche Lebensbedingungen haben sie noch nicht ganz vergessen. Zum vierten Mal besticht Proulx mit einer Kunst, die, nach Walter Benjamin, den "Namenlosen zugewandt" ist. Sie sind die Mitte Amerikas.

Annie Proulx: Mitten in Amerika. Roman. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Luchterhand, München 2003, 511 S., 25 EUR

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