Sind Sie gerecht?

Freistil Die 8. Kunst-Biennale von Istanbul fragt nach der "Poetic Justice"

Der Ausdruck Poetic Justice ist ein Ausdruck der Gnade. Er drückt aus, wie Gerechtigkeit in der Welt erscheinen kann trotz aller Kräfte von Konfusion und Zerstörung. Die Band hat sich Poetic Justice genannt, weil alle von uns in ihrem Leben für die Gerechtigkeit gearbeitet haben, mit allen möglichen Mitteln - und durch Musik." Man wundert sich, dass der amerikanische Kunstkritiker Dan Cameron seine Landsfrau Joy Harjo und ihre Band nicht nach Istanbul eingeladen hat. Harjo ist Lyrikerin, Malerin und Musikerin - ein Multitalent aus der Tribal-Reggae-Jazz-Ecke, wie es vermutlich nur in den USA blühen kann. Die Angehörige der First Nation stammt aus dem Stamm der Muskogees. In den Staaten feiert die Dozentin für native und creative writing mit ihrer "Honor-The-Earth"-Tournee Triumphe. Und volkstümlich hat sie genau das ausgedrückt, wofür der polyglotte Intellektuelle Cameron, Kurator des New Yorker New Museum of Contemporary Art neun Katalogseiten gebraucht hat, um das Motto seiner jüngsten Kunstausstellung zu erklären: Dass Kunst einen ethischen Antrieb braucht und Schönheit die Welt verbessern kann.

Auch auf dieser Biennale, der achten internationalen Kunstbiennale von Istanbul seit ihrer Gründung 1987, sind natürlich Arbeiten zu sehen, die an dem naiven Gutkünstlertum Harjos entlangschrammen. Doch Camerons Biennale fällt auf, weil er junge, von dem Wanderzirkus der Biennalen noch nicht verschlissene Kunst aufgetrieben hat, die die Gefahren der tragisch bis euphorisch umflorten Sozialdokumentation konzeptuell bravourös umschifft. Die 1970 in Ramallah geborene Künstlerin Emily Jacir beispielsweise hat die Reminiszenzen von Palästinensern, die Ende der vierziger Jahre von den Israelis aus über 400 Dörfern vertrieben worden waren und sie bis heute nicht mehr betreten dürfen, in einem Erinnerungsprojekt aufgezeichnet. "Wenn ich irgendwo in Palästina etwas für dich tun könnte, was wäre das?" hat sie diese Exilierten gefragt. Und da sie als US-Bürgerin die Reisefreiheit besitzt, die ihre Landsleute nicht mehr haben, hat sie sie zur Erfüllung von deren Wünschen genutzt: "Geh zum Grab meiner Mutter in Jerusalem an ihrem Geburtstag, lege Blumen nieder und bete", hat ihr jemand gesagt. Wo wir herkommen heißt ihre Installation. Sacirs Arbeit ist ein eindrückliches Monument des fortwährenden Kolonialismus. 32 Fotos ihrer Exkursion ins unerreichbare Erinnerungsgelände, kombiniert mit den schriftlichen Bitten ihrer Landsleute, hängen wie fotografische Grabsteine im Tophane-Kulturzentrum, einer alten Kanonengießerei, an einer weiß getünchten Wand. Die strenge Reihung wirkt zwar wie ein serieller Notbehelf, dass die politische Anklage nur schwer zu transformieren vermag. Doch die Kunst lässt den Ausgeschlossenen und ihren Erinnerungen symbolisch Gerechtigkeit widerfahren. Wie zeitgenössisch, cool, poppig man ein exemplarisches nation-building darstellen kann, ohne an Substanz zu verlieren, zeigt der 1975 in Lima geborene Fernando Bryce. Er hat die Geschichte der Andenrepublik in einen Comic-Strip umgesetzt, der von der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung 1821 bis zum ihrem neuen Symbol reicht, einem Puma-Turnschuh - eine gelungene ironische Geschichtsschreibung.

Am beeindruckendsten arbeitet die 1968 geborene kubanische Künstlerin Tania Bruguera. Über eine Treppe steigt man durch einen Holzsteg, der über und über mit 729.092 aufgebrühten Teebeuteln behängt ist. Auf dem Umweg einer Darreichungsform, die im kapitalistischen Kontext entstanden ist und die autochthone Kultur in einen globalen Konsumartikel abstrahiert hat, macht sie diese Kultur für ihre Benutzer wieder erfahrbar. Eine programmatische Installation zum postkolonialen Diskurs, politisch, sinnlich, streng - poetic justice pur sozusagen.

Ästhetische Revolutionen in Istanbul? Ausgerechnet die unregierbare 15-Millionen-Metropole am Bosporus, ein explosives Gemisch aus hektischer Moderne und phlegmatischem Islam, eine tickende ökologische, soziale und religiöse Zeitbombe, die reale Hauptstadt einer streng laizistischen Republik, die von der Zweidrittelmehrheit einer islamistischen Partei mit dem an UNO-Programme erinnernden Namen "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" regiert wird, leistet sich damit ein provozierendes Modell ästhetisch vermittelter Gerechtigkeit.

In einem heruntergekommenen Industriegelände am Ufer des Bosporus hat Cameron rund 80 Künstler aus 50 Ländern zu einem konzentrierten Parcours versammelt, der es mit der Mutter aller Biennalen, dem ausufernden Kunstbrei von Venedig aufnehmen kann. Luxusdampfer aus aller Welt schieben sich am Kai vorbei. Der kuriose kleine Handwerkermarkt darauf wirkt fast selbst wie eine Kunstausstellung. Russische Händler warten zwischen staubigen Gartenmöbeln, seltsamen Schläuchen und aufreizend seriell drapierten Klodeckeln auf Schnäppchenjäger aus der Heimat. Von einer schäbigen Cafeteria kann man zum Topkapi-Palast auf dem Goldenen Horn hinüber sehen. In der Mitte des verschachtelten Komplexes aus dem 15. Jahrhunderts erhebt sich der "Turm der Gerechtigkeit". Hier folgte noch bis zum Jahr 1853 der Sultan des osmanischen Weltreiches hinter vergoldeten Gitterstäben den Beratungen seines Obersten Rates. Irgendwann zog er die Gardinen zu und sprach einsam Recht. Zwei Kilometer Luftlinie entfernt ruft nun das multidisziplinäre Projekt "Distributive Justice" auf: "Create a just society!

In einer kleinen Lounge mit vielen Bildschirmen kann man sich im Schnelldurchgang durch die wichtigsten Theorien der Gerechtigkeit zappen - vom Egalitarismus bis zum Utilitarismus. Installationen wie diese sind der Prototyp der derzeit modischen sozialen Interaktionskunst. Immerhin setzt sie ästhetische Phantasie frei, die gerade allüberall gekappt wird. Mit den sechs Symbolen "gemeinschaftlicher Güter": Geld, Freiheit, Spaß, soziale Dienstleistungen, soziale Position, und Chancen, kann man sich am Bildschirm seine - Achtung SPD! - eigene Gesellschaft der "Verteilungsgerechtigkeit" entwerfen. Am Ende steht der Aufruf zur Selbstkritik: "Are you just?".

Mancher Künstler abseits der Biennalen tut sich freilich schwer, die Emotionen, die die Sehnsucht nach Gerechtigkeit freisetzt, mit konzeptionellem Freistil oder virtueller Imagination zu sublimieren. Der 1959 geborene Maler Erkan Özdilek beispielsweise hat sein Atelier direkt hinter dem knappe zwei Kilometer langen europäischen Laufsteg Istanbuls, der Istiklal Caddesi, einer Tag und Nacht musikbeschallten Enklave des westlichen Design-Lifestyles. Im verfallenen Stadtteil Tarlabasi, wo die Transvestiten in blauen Matrosenhemdchen und mit sehnsuchtsvoll geschminkten Augen zwischen Wäscheleinen auf Traummänner warten, hat er darin vor ein paar Monaten eine zwei mal drei Meter große Leinwand aufgehängt. "Wüstenkrieg" hat der Dozent an der Marmara-Universität das Bild genannt. Auf ihm gehen Gold, Ocker und ein dreckiges Burgunderrot, plakative Symbole des US-Imperialismus, eine aufwühlende Melange ein. Poetic Justice im strengen Sinne ist das sicher nicht. Aber auch im Zorn widerfährt der Welt eben manchmal Gerechtigkeit.

Biennale von Istanbul. Noch bis zum 14. November, Katalog 25 EUR


www.istfest.org, www.distributive-justice.com


www.erkanozdilek.com



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