Spuren

KUNST UND LEBEN Beim Berliner Kunstherbst gab man sich realistisch

Lebensmittel Kunst. Diesen Slogan führen Kulturverteidiger gerne an, wenn sie Ungläubigen und Realisten, meist Kulturpolitikern, den materiellen Nutzen des Immateriellen begreiflich machen wollen. Irgendwie bleibt immer schwer vorstellbar, was mit dem frappierenden Spruch gemeint sein könnte. Versucht hatte es letzte Woche die Düsseldorfer Galerie Sies + Höke. Auf der diesjährigen Berliner Kunstmesse art forum hatte sie eine essbare Galerie ausgestellt. Überall sah man die Besucher Rahmen aus Puffreis mit Schokoüberzug und Lebkuchenskulpturen knabbern. Womit die Kunst zwar einen echten Nährwert bekam. Aber dass der absolute Geist namens Kunst so leicht konsumierbar sein sollte, hatte sich Hegel wahrscheinlich nicht gedacht. Einem Geist gleicht das Art Forum auch noch etwas. Im fünften Jahr hängt es immer noch am Tropf der Unterstützung der Berliner Bankgesellschaft, Kunst, künstlich ernährt sozusagen. Vielleicht hat man deshalb klammheimlich den Fanfarenruf der Elitemesse weggelassen, die Eintrittspreise gesenkt und sich auf Kreti und Pleti eingestellt. Von der Fressgalerie bis zu den tibetanischen Hornbläsern bei der Eröffnungsvernissage - der Wille zum ganz normalen Leben war unübersehbar.

Nicht nur der auffällige Überhang fotorealistischer Bilder auf der Kunstmesse wie Sean Mellyns gestochen scharfe, graue Plastikgetränkebottles und strahlenden Glühbirnen in Öl bezeugten, wie lebendig die uralte Idee ist, die Kunst mal wieder mit dem Leben einzuholen. In den Berliner Kunstwerken, dem Olymp des hippen Lebenstils, war es diesmal auf die obszöne Spitze getrieben. Hier bot der mexikanische Künstler Santiago Sierra Arbeiten, so der penetrante Pressetext, mit »einer »akuten gesellschaftskritischen und sich direkt auf den heutigen Menschen beziehenden physischen und sozialen Dimension«. Die bestand darin, dass er sechs Freiwilligen in Havanna, die bereit waren, sich eine tätowierte Linie über den Rücken tätowieren zu lassen, 30 Dollar bezahlte. Den Skandal anzuprangern, dass Menschen aus der Dritten Welt für ein paar Bucks ihre körperliche Unversehrtheit zu opfern bereit sind, sogar Organe spenden, ist gewiss ehrenwert. Auch wenn derlei Konzeptkunst seit Hans Haackes aufsehenerregender Aktion in den sechziger Jahren im New Yorker Museum of Modern Art, wo er die Besitzverhältnisse von Immobilien in Manhattan auf Spanplatten ziehen und ausstellen liess, nichts wirklich Neues ist.

Die Aktion auf Video aufzunehmen und das Band dann in der Galerie zu zeigen, stellt jedoch ihre Teilnehmer genauso bloss wie die Asylanten, die Sierra für vier Stunden täglich in verklebte Pappkartonhäuser in den Ausstellungsraum der Galerie gesetzt hat, um anzuklagen, wie sie hierzulande öffentlich unsichtbar gemacht und eingepfercht werden. Sierra will zeigen, wie die Dritte Welt mitten unter uns ist. Die Zuschauer ergötzten sich an der Arte Povera-Ästhetik im leeren white-cube. Doch dem freundlichen Obdachlosen, der im Szenecafe Barcomis, in der neonrotblau ausgestrahlten Gipspassage in Mitte, wo sich die Vernissagenschickeria die Zeit bei Deli-Bagels totschlug, seine Zeitung loswerden wollte, kaufte keiner ein Exemplar ab. Wo so viel Leben in die Kunst zurückgeholt wird, kann man verstehen, dass das Leben Angst vor diesem Pseudorealismus kriegt und sich schleunigst zu Kunst verpuppt. Seit neuestem steht am alten Grenzkontrollposten Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße ein originalgetreu nachgebautes Passierhäuschen samt Sandsäcken. Geschichte: eine Imaginations-Installation.

Die ist womöglich aber das eigentliche Leben. Realistisch allein bringts einfach nicht, hat sich die Künstlerin Simone Decker vermutlich gesagt. Und gekaute Chewinggumhäufchen in ihre Venedig-Fotos kopiert, so dass sie wie starke, fremde Objekte in sattsam bekannter Kulisse wirken. Dem Künstler Gero Gries reicht für seine 3D-Renderings, virtuellen Bildern hyperrealistisch überhöhter Alltagsszenerien wie einem Waschbecken im Badezimmer oder einem Schreibtischausschnitt, das Leben als Vorlage. In seinen Bildern, stammt oft nur ein winziges Bruchstück aus dem Leben. Daran »optimiert» er digital so lange herum, bis es total realistisch aussieht, aber nicht mehr ist. Realität und Imagination sind eine nicht mehr nachvollziehbare Legierung eingegangen. Das Lebensmittel Leben erkennt man in dieser Kunst höchstens noch als Spurenelement. Entstanden ist das, was uns am liebsten ist, aber sonst nie gelingt: eine Realität, die der Vorstellung entspricht.

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