Stufen der Angst

LUFTKRIEG UND LITERATUR W.G. Sebalds Anklage gegen die unterlassene Schilderung des deutschen Zerstörungstraumas in der Nachkriegsliteratur hat eine unerwartete Aktualität bekommen

Johann führte jeden Apfel sorgfältig durch die Sacköffnung und ließ ihn erst los, wenn er die schon im Sack sich häufenden Äpfel berührte. Über ihm, im unendlich hohen und genauso blauen Oktoberhimmel, schoben sich fast lautlos die silbern gleißenden Stiftchen der aus Italien einfliegenden Bomber. Ob Stuttgart, Ulm, Augsburg oder München drangekommen war, erfuhr man abends im Radio. Hier in der Gegend warfen sie nur auf dem Rückweg Bomben ab, die sie über den Städten nicht losgeworden waren.« Wieder keine Feuersbrünste und mumifizierte Schrumpfleichen. W.G. Sebald und Volker Hage werden enttäuscht sein. So wie Martin Walser in seinem, vergangenen Sommer erschienenen Roman Der springende Brunnen die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs beschreibt, könnte man meinen, daß auch er sich der »Verpflichtung zum Schweigen« unterworfen hat, die der Schriftsteller Sebald Ende 1997 in seinen Züricher Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur der deutschen Nachkriegsliteratur angekreidet hat. Nur bei Hans Erich Nossack, Hubert Fichte oder Alexander Kluges Bericht über die Zerstörung von Halberstadt hatte Sebald detaillierte Schilderungen der brennenden Städte gefunden. Betroffen von den Vorhaltungen des zurückgezogen im englischen Norwich lebenden Sebald hatte Spiegel-Redakteur Hage gehofft, daß Großmeister Walser in seinem lange angekündigten Erinnerungswerk die Lücke füllen könnte, die Sebald inkrimiert hatte. Zwar spricht Walser davon, daß im April in einer Nacht Friedrichshafen zusammengebombt worden sei, hört, wie die Kameraden von der Heimatflak bei einem Zugtransport das qualmende Berlin besuchen wollen. Doch mehr kann man in diesem Schlüsselwerk von der Zerstörung Deutschlands durch alliierte Bomben nicht lesen. Auch bei Hans-Ulrich Treichels ausgezeichneter autobiographischer Nachkriegsgeschichte von 1998 Der Verlorene oder Monika Marons jüngster Erinnerungsarbeit Pawels Briefe ist zwar ausführlich von dem anderen deutschen Trauma, von Flucht und Vertreibung und den tiefen seelischen Schäden zu lesen, die der Krieg bis weit in die Nachkriegsgeschichte hineingetragen hat. Aber die reale deutsche Trümmerlandschaft aus Fleisch und Stein ist nicht zu erkennen.

Gewiß hat Sebald einen weißen Fleck auf der angeblich so vollständig kartographierten deutschen Erinnerungslandkarte ausgemacht. Der politischen Sprengstoff birgt. In einer Nachschrift zu seinem Züricher Vortrag, der jetzt zusammen mit einem Aufsatz über Alfred Andersch zu einem Buch zusammengeklebt wurde, bekräftigt Sebald seinen Vorwurf, bemüht sich aber zugleich, dem Vorwurf aus der Debatte Anfang 1998 nach seinem Vortrag zu begegnen, er rede einer Ästhetisierung der Opfererfahrung der Deutschen das Wort; einer, die die Erfahrung ihrer jüdischen Opfer womöglich übertönen könnte. Und er baut, trotz den ziemlich qualmigen Metaphern von der »nationalen Erniedrigung« und der »einzigartigen Vernichtungsaktion« einer Umdeutung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges zugunsten der Deutschen vor, die solche Bilder bewirken könnten, würden sie nachträglich geliefert. Denn das massive area bombing der Alliierten in der seiner Endphase war wegen seiner Folgen für die Zivilbevölkerung und des keineswegs klaren Effektes auf das deutsche Durchhaltevermögen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition höchst umstritten. Ausdrücklich weist Sebald auf die Bombardierung des flüchtlingsüberfüllten Stalingrad durch die 1200 Flieger der deutschen Luftwaffe im August 1942 hin, die vierzigtausend Menschen das Leben kostete und ähnlich unvorstellbare Verwüstungen hinterlassen hat wie diejenigen Kölns, Hamburg oder Dresdens.

Die Frage bei der ganzen merkwürdigen Debatte um Luftkrieg und Literatur ist nur, ob die Kunst die berufene Lückenfüllerin für amnesische Flecken sein sollte oder kann. Das ästhetische Dilemma, in das sich Sebald mit seiner Forderung unweigerlich hineinmanövriert, kann er aber auch nicht auflösen. Er schlingert zwischen den Formeln »unprätentiöse Sachlichkeit« und der Fragwürdigkeit »pseudoästhetischer Effekten aus den Trümmern einer vernichteten Welt«. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk im letzten Jahr hat er daher die Methode der metaphorisch aufgeladenen Essayistik empfohlen, die er selbst in seinem eigenen Prosawerk, wie in Die Ringe des Saturn bevorzugt. Oder mit der Hubert Fichte in Detlevs Imitationen ›Grünspan‹ seinen Erzähler in der medizinischen Bibliothek Hamburg-Eppendorf einen wissenschaftlichen Bericht über die Leichenformen des Luftkrieges finden läßt. Eines der wenigen literarischen Zeugnisse dieser Zeit, das Gnade vor Sebalds Augen findet. In der Tat ist die belletristische Literatur über den Krieg seit Grimmelshausen, vor allem aber seit dem ersten Weltkrieg eine Mischform von Realität und Fiktion. Eine »Naturgeschichte der Zerstörung« zu schreiben, wie W.G.Sebald es will, ist am Ende dieses Jahrhunderts nur allzu berechtigt. Und vielleicht gelingt dem Hybridcharakter solcher Literatur ja eine ertragreichere Annäherung an das - womöglich nicht ohne Grund über Jahrzehnte ausgesparte, umgangene - unvorstellbare Grauen als Wissenschaft oder Fiktion allein. Dazu kommt die problematische Rolle, die Sebald der Literatur mit dem pathetischen Ehrentitel »Bewahrer des kollektiven Gedächtnisses« zuweist. Was soll die liefern? Eine Art deutsche Luftkriegs-Edda, die noch die nächsten Generationen deklamieren? Irritierend auch der antiexperimentelle Zungenschlag, der in der Attacke gegen Arno Schmidts »linguistische Laubsägearbeit« mitklingt. Und unterschwellig scheint aus Sebalds nachdrücklich vorgetragenen Formeln wie dem »Verzicht auf Kunstübung«, »Präzision und Verantwortung«, von »authentischen Fundstücken, vor denen jede Fiktion verblaßt » dann ein doch eher enges Realismus-Konzept als ästhetische Norm auf.

Wohin das führt, kann man an Sebalds Aufsatz über Alfred Andersch sehen. Der ist zwar in der Tat ein furchterregendes Beleg für seine These, daß die Literatur unmittelbar nach dem Krieg mit der »Nachbesserung des Bildes« von sich selbst mehr beschäftigt war als mit anderem. Es ist ein faszinierendes Stück literaturhistorischer Recherche, wenn Sebald Anderschs Versuche beschreibt, seine Biographie von der Kollaboration mit dem Nazi-Regime, wie dem Eintritt in die Reichsschrifttumkammer und der Scheidung von seiner jüdischen Frau Angelika Albert reinzuwaschen und sich zu einem Widerstandskämpfer umzudeuten. Doch es grenzt an die Manie eines Karl Corino, Anderschs literarische Werke umstandslos wie Aktenbelege heranzuziehen und bei dessen Romanen Die Kirschen der Freiheit oder Sansibar oder der letzte Grund von deren »Wahrheitsgehalt« zu sprechen. Es scheint, daß Sebalds Obsession mit den Schäden, die die Totalitarismen dieses Jahrhunderts hinterlassen haben, und ihn zu einem bewunderten Einzelgänger der deutschen Literatur gemacht haben, alle Ästhetik überlagert.

Seitdem nun wieder »Bomben auf Belgrad« (Welt am Sonntag) fallen, ist die Frage nach dem Zusammenhang von Luftkrieg und Literatur keine akademische mehr. Doch ob der »Serbische Ritter« von der lächerlichen Pose, Peter Handke, der sich aufgemacht hat, Slobodan Milosevic´ beizustehen, brauchbare Beschreibungen von den Folgen liefern dürfte, die der NATO-Luftkrieg hinterläßt? Zynisch könnte man anfügen, mit den chirurgischen Schlägen des high-tech-Militärs heute, die das Flächenbombardement abgelöst haben, hat sich das Darstellungsproblem erst einmal erledigt. Warum sollte man beschreiben, wie Bunker und Depots in die Luft gesprengt werden? Doch wenn das zyklisch wiederkehrende Geschrei um den großen deutschen Wenderoman eines gelehrt hat, dann, daß daß man sich von der Literatur nichts wünschen soll. Schriftsteller sind keine zeitgeschichtliche Schreib- oder Archivbereitschaft. Es soll hier nichts vorab moralisch in Bann geschlagen werden, was ästhetisch möglich ist. Doch kann die Literatur neu verarbeiten, was selbst der Realität nicht gelingt? Es scheint nicht, daß der Luftkrieg über Jugoslawien das deutsche Kriegstrauma neu ins eigene Bewußtsein hebt. Und hat Sebalds Therapieformel von der »retrospektiven Selbsterfahrung« allein der Deutschen qua »literarischer Transpositionen der Vernichtung« im Feuerschein der sich ausbreitenden Zerstörungen in Pristina oder Belgrad nicht den leichten Hauch des Obszönen?

Die Bilder der aus dem Kosovo Vertriebenen an der Grenze zu Mazedonien machen wieder einmal deutlich, daß Krieg in erster Linie der Krieg des kleinen Mannes ist. Ohne Täter und Opfer zu vermischen oder den kleinen Mann zu idealisieren, der auch Mitläufer war - womöglich liefert die dafür mindestens ebenso wie die Luftkriegsliteratur vernachlässigte Kriegsgeschichte von unten die Erkenntnis, daß sich die, die ihn von oben führen und die, die ihn unten erleiden, zumindest in einer speziellen Erfahrung gleichen: »Über einem gut verteidigten Angriffsziel« schreibt der britische Bomberpilot John Wainwright in seinen Memoiren »gab es so etwas wie Tapferkeit nicht...nur Stufen der Angst«. Um das nachzuempfinden, kann man sich heute aber auch die Fernsehbilder anschauen, die die Drohnenflugzeuge von den Angriffen und Massakern aufnehmen.

W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Hanser Verlag, München 1999, 167 S., 34,- DM

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