Wussten Sie, dass jeden Tag 1.000 Menschen aus aller Welt nach Los Angeles ziehen? Dass in der Stadt am Pazifischen Ozean 1.500 Straßengangs ihr Unwesen treiben? Dass diese Gangs 200.000 Mitglieder haben? Dass dort 1949 auf Druck der Automobilkonzerne das größte öffentliche Eisenbahnnetz der Welt stillgelegt wurde? Dass in der Stadt das T-Shirt und der Glückskeks „erfunden“ worden sind? Und wenn Sie es nicht wissen, würden Sie all diese Fakten dann in einem „Roman“ lesen wollen?
Diese Genrebezeichnung bei einem Werk, das den Autorennamen James Frey trägt, lässt aufhorchen. Denn dieser Mann ist ein spektakulär gestrauchelter Sachbuchautor. 2005 war der 1969 in Cleveland geborene Schriftsteller mit der Autobiografie A Million Little Pieces (Dt. Tausend kleine Scherben">Tausend kleine Scherben) berühmt geworden. Darin und in dem Nachfolgeband My Friend Leonard hatte er sein Leben als Krimineller und Junkie beschrieben. Der Band stürmte, nach einer Empfehlung von Oprah Winfrey, die Bestsellerlisten. Bis die investigative Website Smoking Gun sich des Schmökers annahm.
Ihrem Dossier A Million Little Lies konnte man entnehmen, dass sich die kriminelle Vita des James Frey auf fünf Stunden in Polizeigewahrsam und 700 Dollar Geldstrafe reduzierte, weil der Autor eine offene Bierdose im Auto spazieren fuhr. Als Retourkutsche kanzelte Winfrey den Autor in ihrer Show vor einem Millionenpublikum ab. Doch trotz seines „Geständnisses“ und des Angebots seines Verlegers Doubleday, den Käufern des Buches ihr Geld zurückzuerstatten, rangieren A Million Little Pieces und My Friend Leonard">My Friend Leonard mit 3,5 Millionen verkauften Exemplaren immer noch auf der aktuellen Sachbuch-Bestenliste der New York Times.
Ein Sachbuch füllt er mit täuschend echten Fiktionen. Seinen ersten Roman überwiegend mit belegten Fakten. Dieser Mann balanciert offenbar gern auf der Grenze zwischen Realität und Phantasie. Was durchaus für Frey als Künstler spricht. Im Fall seines neuen Buches liegt es aber vielleicht einfach am Gegenstand. Denn an einer Stadt wie Los Angeles, einer Galaxis ohne Zentrum, die so groß ist wie Irland, gleichermaßen Projektionsfläche wie Realmonster, müssen alle ästhetischen Waffen stumpf werden.
In der Gosse
Die Mischung aus Fakten und Fiktionen, für die sich Frey in Strahlend schöner Morgen" target="_blank">Strahlend schöner Morgen entschieden hat, hat also ihre Logik. Sein Lexikon der Extreme und Maßlosigkeiten, auf das er hinaus will, hat er mit einem Kaleidoskop unverbundener Schicksale von Menschen in diesem Moloch verschnitten. Irgendwie muss der ganze Wahnsinn ja auch emotional transportiert werden.
Der Roman bedient Freys Lust am Schillernden, Monströsen ebenso wie die Gier des Publikums danach. Das Positivste, was sich über diesen Roman sagen lässt, ist, dass er so maßlos geworden ist, wie das Objekt seiner Begierde. Doch wenn die Washington Post darin einen Wiedergänger von James Joyces‘ Ulysses (Penguin Modern Classics)">Ulysses oder John Dos Passos’ Manhattan Transfer">Manhattan Transfer zu erkennen meint, muss man an ihrem literaturkritischem Verstand zweifeln. Auch an Jonathan Franzens Die Korrekturen oder Jeffrey Eugenides’ Middlesex">Middlesex kommt Frey nicht heran, auch wenn in der Blogosphäre noch so gejubelt wird. Es sei denn, man nimmt den Umfang von knapp 600 Seiten schon für literarische Qualität.
Genau da hapert es bei Strahlend schöner Morgen" target="_blank">Strahlend schöner Morgen. Zu simpel sind die Charaktere, die sich Frey ausgedacht hat, zu klischeehaft seine Gegensätze: Hier das blutjunge Pärchen Mandie und Clyde, das aus einem „Irgendwo, Nirgendwo, Überall, in einer amerikanischen Kleinstadt voller Alkohol, Missbrauch und Religiosität“ ausbricht, um dem Versprechen auf ein besseres Leben in der Lichterstadt im Westen zu folgen und natürlich in der Gosse endet. Da der Penner Old Man Joe, der an der Venice Promenade, in einem öffentlichen Klo lebt und sich, wenn’s brenzlig wird, immer erst mal mit geklautem Chablis benebelt. Dort die superreichen Filmstars Amberton und Casey aus Malibu, die in einer luxuriösen Gated Community in Beverly Hills eine Scheinehe führen – er ist schwul, sie lesbisch.
Nicht, dass Frey das soziale Umfeld und das Ambiente dieser Figuren nicht recherchiert hätte. Doch sie alle sind grob zurecht geschnittene, grell angemalte Pappfiguren. Zu sehr müssen sie alle L.A.-Problemzonen abdecken. Zu prototypisch müssen sie ihr Milieu repräsentieren. Zu sehr werden alle vorgeführt, um zu bestätigen, was der Kleinbürger schon immer über die Stadt am Pazifik wusste. Eine Stadt zwischen Himmel und Hölle. Ein Paradies der Entwurzelten. So wie er diese Dichotomie ästhetisch spiegelt, strickt Frey den Mythos von der Stadt der Engel nur immer weiter, anstatt ihn einmal anders aufzudröseln.
Die endlosen Listen und Notizen zur Stadtgeschichte, mit denen er seine Lebensgeschichten unterbricht, enthalten durchaus Interessantes. Wer weiß schon, dass der Nobel-Stadtteil Pasadena seinen Namen einer Indianer-Vokabel verdankt. Und nicht jeder hat von dem skurrilen Gesetz gehört, dass es in der Stadt Los Angeles verboten ist, an psychoaktiven Kröten zu lecken – ihre Sekrete könnten high machen. Gebrannte Frey-Fans können alles googlen. Sie werden keinen Fehler finden.
Doch spätestens wer die Liste der Freeways liest, die Los Angeles durchschneiden, die Liste der blutrünstigen Gangs, die die Stadt in Atem halten oder die die der Spezialkliniken, in denen Soldaten ihre Posttraumatischen Belastungsstörungen behandeln lassen können, den überkommt schnell das große Gähnen. In der ästhetischen Summe gemahnen diese zwischen die Handlungsstränge montierten Vignetten und Aufzählungen weniger an die antinarrativen Verfahren der Postmoderne als an das Guinness-Buch der Rekorde. Kein Lump, wer da schnell weiterblättert.
Am ehesten dürfte Strahlend schöner Morgen" target="_blank">Strahlend schöner Morgen vielleicht noch als ein Werk in die Literaturgeschichte eingehen, bei dem Intensität die Durchdringung ersetzt. Ein Presslufthammer ist ein Kinderspielzeug gegen die Sätze, die Frey seinen Leser ins Hirn hämmert. Doch deren scheinbar erbarmungsloses Staccato kann die moralische Empörung, die sie treibt, nur schwer verdecken. Ein „Comeback“, wie Irvine Welsh im Guardian jubelte, ist Frey nach seiner desaströsen Premiere vielleicht gelungen, wenn auch nicht unbedingt ein literarisches.
Die arme Esperanza
Das alles mag man einem Autor nachsehen, der nach eigenem Bekunden nur zwei Kategorien von Autoren kennt: thinkers and feelers. Doch auf was läuft diese Shock-and-awe-Ästhetik hinaus? Wenn sich Esperanza, die dickschenkelige, aber herzensgute Tochter mexikanischer Einwanderer und der weiße, aber feige Student Doug – dessen rassistische Mutter Esperanza als Dienstmädchen entlassen hat – in den Armen liegen, löst sich das Rasseproblem, das die Stadt mehr als einmal in einen Hexenkessel verwandelt hat, in reinstem Kitsch auf.
Ob Nathanael Wests Tag der Heuschrecke oder Ridley Scotts Blade Runner – James Frey ist nicht der erste, der es sich in den Kopf gesetzt hat, die Megalopolis L.A. als Zerrbild des amerikanischen Traums und Themenpark der Apokalypse zu beschreiben. Der aber, wie es der Buchtitel deutlich macht, nie seine Anziehungskraft verliert – das Erfolgsgeheimnis der USA. Freys Roman wird gewiss auch nicht der letzte sein. Doch wer sich gern an facts figures berauscht, ist mit Mike Davis’ stadtsoziologischem Band City of Quartz besser bedient. Die akribische Studie des amerikanischen Marxisten aus San Diego, zeitweilig Getty-Stipendiat, ein Standards setzender Klassiker mit Tausenden von Fußnoten und einer ausufernden Literaturliste, liest sich tausendmal spannender als die schrille Docufiction des James Frey. Davis’ Werk ist 1990 erstmals erschienen. Doch noch immer trägt es seinen Untertitel zu Recht: Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles.
James Frey. Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Ullstein, Berlin 2009, 592 S., 22,90
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