Tramway nach Bethanien

Volxküche In Berlin-Kreuzberg könnte ein neuartiges Kulturzentrum entstehen. Noch bekriegen sich aber Hoch- und Basiskultur im Kampf um das legendäre "Bethanien"

Cross the boarder, close the gap. Als der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler in seinem berühmten Essay von 1972 dazu aufforderte, die künstliche Trennung zwischen ernster und unterhaltender Kultur aufzugeben und auch die Trivial- und Alltagskultur ästhetisch ernst zu nehmen, war das noch provokativ. Inzwischen ist das einstige Stiefkind derart zur Leitgröße des Kulturbetriebs avanciert, dass man den Klassiker Harald Schmidt schon fast wieder in Schutz vor Oliver Pocher nehmen möchte. Um so verwunderlicher, dass sich plötzlich High und Low (so der Titel einer begriffsprägenden Ausstellung 1990 in New York) in einem geradezu exemplarischen Konflikt wieder gegenüberstehen - unversöhnlich wie eh und je.

Ort des Geschehens ist das legendäre "Bethanien", mitten im tiefsten Kreuzberg 36, ganz weit hinten in der deutschen Hauptstadt, da wo sich Studenten, Punks und Türken Gute Nacht sagen. Über dreißig Jahre ist es her, dass die verwitterte Klinkerburg aus dem 19. Jahrhundert zum Fanal der Hausbesetzerbewegung der siebziger und achtziger Jahre wurde. Und ein Rest dieser dissidentischen Anziehungskraft wirkt noch heute. Im Sommer 2005 retteten sich die letzten Hausbesetzer Berlins nach einer Räumung in den leerstehenden Südflügel des Bethanien. Seitdem tobt ein zäher Kampf um die Zukunft des neoromanischen Gemäuers am Mariannenplatz: Soll es ein international renommiertes "Künstlerhaus" bleiben, wie es der jetzige Leiter Christoph Tannert fordert oder soll es ein "soziokulturelles Zentrum von unten" werden, wie es das Kreuzberger Bezirksparlament im letzten September beschlossen hat?

Ob die Besetzung wirklich Tannerts und des Bezirkes frühere Pläne vereitelte, das heruntergekommene Gebäude mit seinen immensen Grundkosten an einen Investor zu veräußern, wird man nicht mehr rekonstruieren können. Wahrscheinlich gab es einfach keinen kunstverliebten Geldgeber, der dem 1955 in Leipzig geborenen Ausstellungsmacher ein schickes Flaggschiff der internationalen Kunstavantgarde dahingestellt hätte. Die Besetzer veränderten jedenfalls die Lage. Aufgeschreckt durch das Reizwort "Privatisierung" sammelte eine "Initiative Zukunft Bethanien" 14.000 Unterschriften gegen den Verkauf, das Bürgerbegehren war schließlich erfolgreich. Der Bezirk stahl sich werbewirksam aus der zurückgewonnenen Verantwortung. Er delegierte die Konzeptentwicklung für das neue Kulturzentrum an einen "Runden Tisch" aus allen Nutzern des Bethanien. Bezirksbürgermeister Franz Schulz von den Grünen drückt aufs Tempo. In diesem Sommer soll eine Entscheidung über die Bürde des Kreuzberger Haushalts fallen.

So schleppend die Verhandlungen an diesem Runden Tisch vorangehen, sagt das etwas darüber aus, wie schwierig es noch immer ist, Brücken zwischen High und Low zu bauen. Zugegeben - der Gedanke, dass im zentralen Ausstellungsraum des Künstlerhauses, der zum eleganten White Cube umgenutzten Kapelle, in dem schon Maler-Stars wie Norbert Bisky ausgestellt haben, eine "Volxküche" eröffnet, wie kürzlich vorgeschlagen, wirkt befremdlich. Man kann auch verstehen, dass Tannert eine noch aus DDR-Zeiten herrührende Aversion gegen die "Volksverbundenheit" der Kunst hat. Dass er sie nicht als "elitär" und "bürgerliche Scheiße" bezichtigt sehen möchte - Vokabeln, die am Runden Tisch schon mal die Runde machen. Man kann auch nachvollziehen, dass er nicht nächtelang in einer noch zu gründenden Genossenschaft diskutieren will, ob jetzt eine Ausstellung stattfinden soll oder eine antirassistische Tanzaktion, ein Kuratorenmeeting oder die "Lange Nacht der Subkultur" - Angebote nach dem Geschmack der Besetzer in ihrem Flügel, in dem früher das Kreuzberger Sozialamt residierte. Jetzt firmiert das quirlige Matratzenlager als "Raum für emanzipatorische Projekte".

Doch schon unter Tannerts Vorgänger Michael Haerdter war das Bethanien-Konzept nie monokulturell und schon gar nie allein auf Kunst ausgelegt. Legendär waren die Theateraufführungen auf der von Gott-hab-ihn-selig-Rio-Reiser besungenen Grasnarbe des Widerstands vor der imposanten Eingangskulisse des 16.000-Quadratmeter-Baus. Trotzdem verwundert, dass der umtriebige Kurator, der neben seinem nervenzehrenden Job als Geschäftsführer des Künstlerhauses vor zwei Jahren Zeit fand, eine Großausstellung mit Kunst aus Istanbul im Berliner Gropius-Bau zu stemmen, so lautstark auf Abstand zur alternativen Klientel geht. Zu DDR-Zeiten war Tannert ein von der Obrigkeit kritisch beargwöhnter Impressario des künstlerischen Untergrunds. Vor zwei Jahren erinnerte er mit Freunden in einer viel beachteten Ausstellung Ost-Punk (Freitag 36/ 2005) in einer alten Brauerei im Osten an seine eigenen Wurzeln. Mit Blick auf die Ideen der ungeliebten Besetzer in seinem Südflügel, die die Freiräume wieder entdecken, die er selbst einst lustvoll nutzte, wettert Tannert gegen eine "völlig rückwärtsgewandte Position".

So spitzt sich der Konflikt scheinbar unaufhaltsam zu. Keiner weiß, was passiert, wenn der Runde Tisch zu keiner Übereinkunft kommt. Das Berliner Künstlerduo Delbrügge de Moll, vor zwanzig Jahren selbst Stipendiaten im Bethanien, hat zwar kürzlich mit der Installation New Harmony die Idee eines Auszugs des Künstlerhauses in den seit 2001 geschlossenen Vergnügungspark Tivoli am Spreeufer in Treptow ins Spiel gebracht. In die Kapelle des Bethanien hat es schon mal Holzmodelle der neuen Ateliers gestellt. Auch Tannert hat vorgesorgt: Den Namen Künstlerhaus Bethanien hat er rechtlich schützen lassen und sich nach alternativen Standorten in Mitte umgesehen - näher am Strom des Ruhm bringenden Kunstbetriebs. Doch wirklich sinnvoll erscheint weder das eine, noch das andere: weder eine "urbane Künstlerkolonie" im Geiste des britischen Frühsozialisten Robert Owen am Rande der Stadt noch der Plan, dem selbstreferentiellen Netzwerk von Kuratoren und Stipendiaten, die sich in den Künstlerhäusern rund um den Globus die Klinke in die Hand geben, ohne zu ahnen, wo sie sich aufhalten, eine weitere verwechselbare Andockstation hinzu zu gesellen.

"Das Bethanien" bezog - gerade für die internationalen Künstler, denen hier rund 20 Länder für ein Jahr ein Atelier finanzieren - seine Attraktivität immer aus einem geheimnisvollen Mix: Hier konnte man den verwitterten siebziger Jahre-Mythos aus Berliner Kampfzeiten bestaunen, begegnete tagsüber ganz alltäglichen Kunstproduzenten in der Bezirks-Musikschule, konnte in der einzigen türkischen Bibliothek Berlins stöbern, stand unverhofft vor historischen Relikten wie der "Fontane-Apotheke", versank in dem herrlich subversiven Freiraum des "Kunstraums Kreuzberg", und konnte, kaum hatte man das nachts unbeleuchtete Spukschloss verlassen und das plattgestochene Fahrrad wiedergefunden, den attraktiven Problemkiez live beobachten.

Könnte der ästhetische "Think-Tank" und die "Erlebnismaschine der Künste", wie sie dem progressiven Ossi Tannert vorschweben, nicht auch so aussehen, dass ein kanadischer Filmemacher, das "ZensurKino" der Besetzer und cineastische Laien aus der Nachbarschaft Geschmack aneinander finden und gemeinsam Projekte entwickeln könnten - wenn sie mögen? "Ich fände es eine Katastrophe, wenn sich ein soziokulturelles Zentrum und ein Kunstort nicht vertragen können" sagt Nele Hertling, langjährige Intendantin des Kreuzberger Hebbel-Theaters, seit 2006 Vizepräsidentin der Berliner Akademie der Künste.

Es mag schwierig werden, endlich ein integratives Konzept für ein Haus zu finden, dessen Bewohner bislang schon in herzlichem Desinteresse nebeneinander her wurschtelten. "Eine Situation wie in Kafkas Schloss" stöhnte schon vor Jahren entnervt die ehemalige Berliner Kulturstaatsekretärin Krista Tebbe. Dennoch könnte das Bethanien ein exemplarischer Ort werden, wo sich global vernetzte Hoch- und lokal verwurzelte Basiskultur produktiv begegnen und nicht nur zufällig nach durchzechter Nacht oder in dem idyllischen Freilichtkino im bethanieneigenen Garten. Die Friedrichshafener Kulturwissenschaftlerin Karen van den Berg verweist auf das Beispiel des "Tramway" im schottischen Glasgow: Auf dem Gelände des 1893 errichteten Straßenbahndepots begegnen sich Familien und Künstler, Kuratoren und Sozialarbeiter, ohne dass das dem Ruf des Hauses als erstklassiges Zentrum für moderne Kunst in Europa Abbruch getan hätte.

Mindestens ebenso wie Humboldt-Foren auf dem Schlossplatz bräuchte Berlin solche innovativen ästhetischen Vermittlungsinstanzen im kulturellen Alltag. Sie zu erfinden, verspricht wenig Glanz. Vielleicht lässt deshalb Berlins Regierender Kultursenator Wowereit die Finger vom heißen Eisen Bethanien. Der Freund der Künste schwärmt lieber mit Berlins Metropolensüchtigen von einer "Kunstwolke", jener Halle für zeitgenössische Kunst, die das Kunstmagazin Monopol in die Diskussion gebracht hat. Offizielle Begründung für die Zurückhaltung der Stadt: Das ist Bezirkssache. Rechtlich gesehen stimmt das. Politisch gesehen nicht. In Berlin, dieser einzigartigen Mischung aus ganz high und ganz low entscheidet sich am Ausgang des ewigen Streits um das Bethanien womöglich mehr als eine bizarre Bezirksposse.

www.Bethanien.de

www.bethanien.info

www.yorck59.net

www.tramway.org

New Harmony. Delbrügge de Moll. Katalog hrsg. vom Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2007, 10 EUR


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