Triumph der Überlebenden

NACHGETRAGENE BESSERWISSEREI Monika Marons zwiespältige Erinnerungsarbeit in ihrer Familiengeschichte »Pawels Briefe«

Ich weiß nicht, warum ich geglaubt habe, mein Großvater hätte rötliches Haar gehabt«. Welche Haarfarbe ihr polnischer Großvater Pawel Iglarz wirklich gehabt hat, hat die Schriftstellerin Monika Maron nicht herausbekommen. Ihre Mutter Hella meint dunkel, vielleicht schwarz. Aber genau kann sie es auch nicht richtig sagen. Letztlich bleibt die Erinnerung an die Bilder eines Menschen schwarzweiß, bestenfalls braunstichig, wie die Fotos, die als einzige zu beglaubigen scheinen, daß das Objekt der Erinnerung überhaupt existiert hat. Die Herkunft der Erinnerung, die Unstimmigkeit, der nicht aufzuklärende Rest in dem winzigen Detail einer Familiengeschichte - all das ist symptomatisch. Es gibt keine genaue, es gibt keine gerechte Erinnerungsarbeit. Erinnern heißt Erfinden und Einbilden, Kumulieren und Panaschieren, Auswählen und Weglassen, heißt Anklagen und Rechtfertigen. Aus den Interessen des Hier und Jetzt. Legt man das chancenreiche Dilemma jeden Erinnerns zugrunde, daß das Subjektive das Objektive ist, hat Monika Maron mit ihrem jüngsten Buch eine paradigmatische Erinnerungsarbeit vorgelegt. Und doch bleibt bei der Lektüre des schmalen Bändchens das Unbehagen, daß man diese Lizenz zur Subjektivität auch überziehen kann.

Pawels Briefe ist ein Kompendium aller Abgründe und Glücksmomente des Erinnerns. Denn schon diese Schriftstücke eines zu den Baptisten konvertierten polnischen Juden, der nach Berlin auswanderte, um dort sein Glück zu machen, nach 1933 wieder nach Polen zurück mußte, von den Nazis schließlich ins Ghetto geschickt und dort wahrscheinlich ermordet wurde, sind Synonym für eine Verdrängung. Die Briefe ihres Vaters und ihre eigenen Briefe an ihn in der Verbannung, in denen sich das existentielle Leid einer deutsch-jüdischen Familie spiegelt, hatte Marons Mutter Hella völlig vergessen, tauchten erst zufällig auf, als ein Fernsehteam Monika Maron nach ihrer Jugend befragen will. Je intensiver sich die beiden daran machen, die Familiengeschichte durch gemeinsames Erinnern, durch Sprechen und Besuche im polnischen Geburtsort ihres Vaters und Großvaters aufzuklären, desto mehr Varianten von weggeschobener Erinnerung, vorgetäuschter Erinnerung, »vermoderter Erinnerung«, tauchen auf. Sei es das übertretene Verbot, als Halbjüdin den Luftschutzkeller in der Berliner Schillerpromenade zu benutzen, wo die Kinder nach dem erzwungenen Weggang der Eltern lebten. Sei es der kühle Brief von Monikas Mutter an ihren Vater im polnischen Ghetto, er möge doch über den Tod seiner allein, an Krebs gestorbenen Frau Josefa, zu deren Beerdigung er nicht gehen durfte, hinwegkommen.

Je näher die Erinnung an die Gegenwart der Eltern rückt, desto problematischer wird es jedoch. Jeder, der an der halsstarrigen Erinnerungsresistenz von Eltern verzweifelt ist, die Mitläufer des nationalsozialistischen Systems waren, wird die Frage Marons an ihre Mutter, die später mit dem DDR-Innenminister Karl Maron verheiratet war, gerechtfertigt finden, «...warum sie für die nächsten Jahrzehnte zu denen gehörten, die ihre politischen Gegner in Gefängnisse sperrten, Christen drangsalierten, Bücher verboten, die ein ganzes Volk einmauerten und durch einen kolossalen Geheimdienst bespitzeln ließen.« Doch um wirklich hinter die Motive zu kommen, hätte sie sich auf das intensive Nachspüren konzentrieren sollen. Zwar schreibt sie zu Beginn ihrer Recherche, daß sie bereit sein mußte, »das Leben meiner Mutter einfach nur verstehen zu wollen, als wäre es mein eigenes Leben gewesen.« Doch gerade die neuralgischen Punkte im Leben ihrer Mutter werden mehr als einmal zum Anlaß für Triumphgeheul genommen. So wie Maron das interessante Phänomen beschreibt, wie ihre Mutter im proletarischen Neukölln weniger aus klarer ideologischer Überzeugung in den Kommunismus hineinwächst, denn aus Anpassung an ein gegebenes Milieu, klingt darin immer auch der hämische Unterton, sie einer politischen Bewußtlosigkeit überführen zu wollen. Marons Buch ist eine Collage aus Darstellung, Reportage, Aktenmaterial und eingestreuten Gesprächsfetzen mit ihrer Mutter. So entsteht der Eindruck einer beiläufigen, im Alltag durch Fragen, Streit und Recherche freigelegten Erinnerung. Doch sie kann es nicht lassen, sich immer wieder vor diese mühsam und penibel aufgerufenen, labilen Erinnerungsbilder zu drängen, statt sie erst einmal wirken zu lassen.

»Zwischen der Geschichte, die ich schreiben will, und mir stimmt etwas nicht« schreibt sie und schiebt sich immer wieder in den Vordergrund. Einfach nicht wahrhaben will sie, daß ihr würdevoller Großvater, der den Kindern immer predigte, daß Haß keine Lebensmaxime sein dürfe, tatsächlich Kommunist gewesen sein könnte. Das langsame Vortasten an den Punkt, wo die Mutter sich klar als Kommunistin empfand, hätte ein Spannungsbogen vom Anfang zum Ende dieses Zeitalters der Ideologien werden können. Doch Maron muß ihn kaputtmachen, mit der rechthaberischen Erinnerung an das Glück, das sie empfand, als sie, mit vierzig Jahren zum ersten Mal in New York, ihren endgültigen Bruch mit der verhaßten Ideologie empfindet. Ist das nun schonungslos oder schamlos? Gewiß. Es gibt keine gerechte, keine pietätvolle Erinnerungsarbeit. Aber es gibt auch nachgetragene Besserwisserei. »Ich bin der Sieger der Geschichte« ruft sie ihrer Mutter zu, als im November 1989 die Mauer fällt und sie zu ihr aus dem Westen, wohin sie als privilegierte Stieftochter eines SED-Funktionärs hatte ausreisen dürfen, nach Ostberlin entgegenfährt. Die Selbstgerechtigkeit, die sie für ihren Weg aus dem apathischen Mitläufertum des DDR-Sozialismus und ihrem Flirt mit den Stasi-Spitzeln aufbringt, bringt sie für ihre Mutter nicht auf. Ihre Konvertitenüberheblichkeit wird Monika Maron in der eigenen Familiengeschichte nicht los.

Die gibt, man wird es trotz aller grimmigen Einwände gegen ihren monomanischen Selbstdarstellungsdrang nicht bestreiten können, ähnlich wie Steven Spielbergs »Shoa Foundation«, den unbekannten, in der öffentlichen Erinnerung unterschlagenen Opfern Stimme und Gesicht. Und erinnert einmal mehr an die Leere, die die nationalsozialistische Erinnerung hinterlassen hat: »Jonas fragte, wie er das Nichts fotografieren solle« beschreibt Maron die ratlose Reaktion ihres Sohnes, als sie im polnischen Geburtsort ihrer Großeltern nicht eine einzige Spur ihrer frühen Existenz finden. Selbst den alten jüdischen Friedhof hatten die Deutschen dem Erdboden gleichgemacht. Zwar fragt man sich, warum es immer erst die großen Namen braucht, um das Erinnerungsvermögen einer Nation zu beglaubigen. Jahrzehnte von Struktur-, Gesellschaftsgeschichte oder der oral history werden eher beiläufig zur Kenntnis genommen, scheinen am kollektiven Gedächtnis ebenso kaum zu rütteln wie die Inflation historischer Stadtmuseen. Doch wenn sich ein Walser, eine Maron erinnern, werden ihre Arbeiten plötzlich zu Meilensteinen stilisiert. Gewiß hat Maron selbst in ihrer Polemik ein Stück aufschlußreicher, in vielen Szenen bewegender Erinnerungsarbeit durch das Jahrhundert der deutschen Extreme geleistet, durch diesen Alptraum von Demokratie und Diktatur. Aus dem es kein unbeschadetes Herauswinden gibt. Und keine Patentlösung für die Frage nach dem Zusammenleben. Die Geschichte ihrer Großeltern oder die schizophrene Haßliebe zwischen Maron und ihrer Mutter, ein Gefühl, das Kindern von Nazi-Eltern nicht unbekannt ist, sind übrigens ein Grund, warum es auf absehbare Zeit keine deutsche Normalität wird geben können. Wünscht sie sich Martin Walser auch noch so sehr. Monika und Hella üben ein höchst wackliges Auskommen auf Basis der Familienbande, von Mutter und Tochter, von Leben und Lebenlassen, kaum auf einer gemeinsamen moralischen Basis. Das ist ein brüchiger, wenn auch immerhin ein modus vivendi. Und doch wird man bei Monika Maron das bedrückende Gefühl nicht los, daß zu dem deutschen Dilemma dieses Jahrhunderts mindestens ebenso gehört, daß Aufarbeitung nicht ohne das Sickergift der Abrechnung auskommt.

Monika Maron: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1999, 208 S., 31 Fotos, 38,- DM

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