In Klagenfurt ist in diesem Jahr etwas Unerwartetes passiert. Zum ersten Mal ist der vom Aussterben bedrohte Braunbär wieder in den Kärntner Bergen gesichtet worden. Eines Nachts der vergangenen Woche riss er drei Brillenschafe. Groß war die Aufregung in der sonst so idyllischen Lindwurmstadt.
Wer in diesen Wochen die Polemiken gegen die "Tage der deutschsprachigen Literatur", vormals Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, verfolgt hat, musste den Eindruck gewinnen, dass manch Klagenfurt-Schmäher sich insgeheim so ein Urviech der Literatur zurück gewünscht hat, eines, das wie ein strafender Gott aus den Höhen der Kunst herabsteigt und die Brillenschafe des literarischen Mittelmaßes und der betulichen Kritik, die es sich jedes Jahr Ende Juni am Wörthersee gemütlich machen, ein für allemal verputzt.
Schafft Klagenfurt ab! hatte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung seit einem Jahr in einem anschwellendem Klagegesang gefordert. Und wer - Hand aufs Herz - hat diesen Gedanken nicht schon selbst einmal gehegt? Klagenfurt ist ein Ritual, das das Eigentliche zu ersticken droht. Wenn die Literatur die Erfindung des Unbekannten ist, dann ist der Wettbewerb die Wiederkehr des Altbekannten - von den ungelenken Grußansprachen örtlicher Kulturreferenten, die Jörg Haider zum Verwechseln ähnlich sehen, bis zu der liebgewordenen Marotte ihrer intellektuellen Kritiker stets in dem selben Hotel abzusteigen. Und wenn sich abends in der Dachwohnung eines Klagenfurter Philosophieprofessors die kleine Familie aus Ökonomie und Kunst zur Degustation seltener Obstbrände trifft, dann kann man die Kernschmelze eines Betriebs erleben, der sich sonst etwas auf seine kritische Distanz einbildet: Lasst allen Abstand fahren!
Grund genug also für ätzende Kritik. Doch dass man diesen durch Krämer, Medien und Geschwätz entweihten Tempel wieder in einen privilegierten Ort der Literatur zurück verwandeln könnte, das schien denn doch seltsam weltfremd in einer Zeit, die mehr als eine literarische Öffentlichkeit kennt und nichts mehr dabei findet, wenn Schriftsteller ihren Beruf mit dem gleichen profanen Pragmatismus ausüben wie allerlei andere Profis der immateriellen Arbeit.
Doch ausgerechnet, als man den Klagenfurt-Hass als letztes Aufblitzen der Genieästhetik abgetan und die Beschwörung der Literatur "im Leben draußen" als die Neuauflage eines alten vitalistischen Missverständnisses von Kunst weggewischt und es sich auf den Holzbänken im Sendesaal des ORF bequem gemacht hatte, erschien ein ausgestorben geglaubtes Wesen auf der TV-Lesebühne und holte zu einem literarischen Prankenschlag aus, wie ihn lange keiner mehr gespürt hatte in der Heimatstadt Ingeborg Bachmanns.
Wenn Klagenfurt wirklich das Gewächshaus für die Kunstblumen des Literaturbetriebs wäre, wie seine Gegner höhnen, hätte Uwe Tellkamp dort nicht auftauchen dürfen. Der Münchener Arzt las mit ernstem Gesicht im schwarzen Anzug seinen Text Der Schlaf in den Uhren. Als der 1968 in Dresden geborene Autor, in der DDR wegen "politischer Diversantentätigkeit" vom Studium relegierter NVA-Offizier, geendet hatte, schien die sonst durchaus sprachmächtige Jury für einen Moment sprachlos. Die letzten Jahre waren die Jahre des Katzenjammers nach dem Ende der großen Utopien gewesen. Klagenfurt beherrschte ein Ton des pubertären Narzissmus: melancholische Ich-Pflege, privateste Mikrokosmen und die Wehwehchen der Thirtysomethings hatten die poetische Kraft junger AutorInnen okkupiert. Und dann diese vierstimmige Geschichte, die von einer Schokoladenfabrik in Dresden zu einer Zeitreise rückwärts, von der DDR bis ins deutsche Kaiserreich startete und all die Lego-Literatur der letzten Jahre mit einem Schlag vergessen ließ: eine Symphonie der Zeit.
Wenn Literatur die Umwege der Phantasie nimmt, wie die Berliner Kritikerin Ursula März meinte, dann begab sich Tellkamps Text auf die Stromschnellen der Phantasie. Und stellte andere beherzte Zugriffe auf die Politik - Dorothea Dieckmanns interessanter Versuch über die Selbstreflektion eines Häftlings auf Guantanamo etwa - in den Schatten. Dass der ebenfalls 1968 geborene Autor Arno Geiger die genau entgegengesetzte Geschichte zu Uwe Tellkamp schrieb und einen sympathisch antriebslosen Protagonisten der Erbengeneration erfand, der den Familiengeheimnissen in der ererbten Villa nicht auf den Grund gehen wollte, ändert nichts an dem, schon seit der Debatte um Flucht und Vertreibung aufgetauchten, neuen Faszinosum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Erinnerungsphlegma und Erinnerungsfuror sind nämlich nur zwei Seiten derselben Medaille. Sie trägt die Prägung: Geschichte.
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