Von Gefängnis zu Gefängnis

Zwangslagen Die 57. Filmfestspiele von Locarno gaben sich betont politisch

"Manchmal komme ich mir vor wie in einem Kreis." Nino sitzt auf dem Dach eines Abrisshauses in Tel Aviv und zieht seinen Finger durch einen Wasserfleck auf dem Tisch vor ihm. In seiner Heimat Nablus wollte der 17-jährige Palästinenser nicht mehr leben. Also floh er nach Tel Aviv. Aber dort kann er auch nicht leben. Seine israelischen Freier finden zwar Gefallen an dem hübschen arabischen Jungen, der abends auf der Straße vor einer vernachlässigten Parkanlage steht, den die homosexuellen Prostituierten, Obdachlosen und Drogenabhängigen, die dort aufeinander treffen, liebevoll "Garden" nennen. Die Polizei aber weniger. In der israelischen Jugendbesserungsanstalt dürfen ihn nicht einmal seine Eltern besuchen. Also bricht er aus. Jetzt sitzt er wieder in einer dieser Tel Aviver Ruinen. Mit starrem Blick fährt er in alle Richtungen durch den Wasserfleck und murmelt: "I have to get out of it."

Ruthie Shatz und Adi Barash´s Dokumentarfilm Garden, ein feinfühliges Porträt palästinensischer Strichjungen, lief bei den 57. Filmfestspielen von Locarno abseits des internationalen Wettbewerbs. Ganz neu war der Film zwar nicht. Er lief schon auf kleineren Festivals und in Programm-Kinos. Und doch schien er wie ein Konzentrat des Grundthemas der meisten Filme. In Ayse Polats deutschem Wettbewerbsbeitrag En Garde, der mit dem silbernen Leoparden ausgezeichnet wurde, wird die 16 Jahre alte Alice von ihrer Mutter in ein katholisches Erziehungsheim gesteckt. Selbst Rocklegende Neil Young, der sich als Filmemacher Bernard Shakey nennt, zeigt in seinem skurrilen Musikfilm Greendale, der von der Politisierung einer Familie in der kalifornischen Kleinstadt Greendale handelt, ständig das örtliche Gefängnis im Bild, ein Symbol für das Amerika nach Nine-Eleven.

In Hassan Yektapanahs ebenfalls mit einem Leoparden ausgezeichneten Film Dastan Natamam will eine Gruppe Iraner das Gefängnis des Gottesstaates verlassen. Und in Forgiveness, dem Film des südafrikanischen Filmemachers Ian Gabriel, sitzt der ehemalige Polizist des Apartheid-Regimes, der in dem kleinen Ort Paternoster die Eltern eines seiner Opfer um Vergebung bitten will, bis zu seinem blutigen Ende unerlöst im Gefängnis der Schuld. Es war schon fast körperlich bedrückend, wie sich das Bild des Eingeschlossenseins durch die meisten Filme zog - real bis metaphorisch. Wenn Film wirklich verdichteter Sinn ist, dann nimmt ganz offenbar das Gefühl zu, dass das Leben im Gefängnis stattfindet. Die Zwangslage ist die Normalität.

Der italienische Regisseur Saverio Costanzo hat das kongenialste Bild für diese Zwangslage gefunden. In seinem Sieger-Film Private erfährt eine palästinensische Familie, wie ihr eigenes Haus über Nacht zu einem Gefängnis werden kann. Israelische Soldaten okkupieren während eines Einsatzes in den besetzten Gebieten das Gebäude und zwingen die palästinensische Familie, nur noch im Erdgeschoss zu leben. Zum Schlafen müssen sich die Eltern und die drei Kinder nachts im Wohnzimmer einschließen. Freunde dürfen sie nicht mehr besuchen - eine klassische Huis-Clos-Situation, in der der Druck unaufhaltsam steigt.

Wer in Locarno über Costanzos beklemmend guten Film sprach, gebrauchte meist den vielsagenden Ausdruck "Docufiction". Das ist ein Zeichen für die Ratlosigkeit, wie man den massiven Einfall der Dokumentarästhetik in das Reich der Fiktion bewerten soll. Ihre ganz naiven Adepten sind zwar verschwunden. Nur die Deutschen Christian Becker und Oliver Schwabe hielten in dem deutschen Videobeitrag Egoshooter weiterhin an dem Irrglauben fest, den Bauchnabel für den Mittelpunkt der Identität halten. Doch es gab in Locarno kaum einen Spielfilm, der auf eingestreute Dokumentarbilder verzichtete. Meist genügt eine Andeutung, etwa, das Bild für Sekunden in Schwarz-weiß zu kippen. Auf der einen Seite wird das Medium damit immer selbstreflexiver und - wenn man so will - glaubwürdiger. Auf der anderen Seite drückt sich darin eine tiefe Verunsicherung über den Status des fiktionalen Bildes aus. Sein Doppelcharakter wird beschworen, immer wieder auf sein reales Gegenstück verwiesen. Der Zahnkranz der Fiktion hat sozusagen Inlays bekommen, ohne die man eine härter gewordene Welt künstlerisch nicht mehr in den Biss nehmen zu können glaubt.

Der Film des 1975 geborenen Costanzo ist ein wirkliches Wagnis. Israelische und palästinensische Schauspieler spielen in einem Film, in dem israelische Soldaten erstmals das Wort Okkupation gebrauchen. In Private ist nichts dokumentarisch, auch wenn der Film von realen Begebenheiten inspiriert ist. Zu Beginn wehrt man sich noch gegen die authentizitätsheischende Handkamera und die Intimität, in die sie den Betrachter zieht. Doch hat Costanzo das Kunststück fertiggebracht, diese Technik in den Dienst der Fiktion zu stellen. Das Fließende und Unwägbare der Kriegssituation wäre ohne die Videoästhetik zum Standbild erstarrt. Und als sich die Tochter eines Tages im ersten Stock in einem Schrank versteckt, um die Eindringlinge auszuspionieren, und einer der Soldaten ihr plötzlich durch einen Türspalt in die Augen schaut, spürt man für einen Sekundenbruchteil die zwei Wahrheiten des Nahost-Konflikts: die Vermischung von privat und politisch, das wechselseitige Erschrecken und den Zwang zur Koexistenz.

Die zehn Tage für Filmmaniacs aus aller Welt entfalten am Laggo Maggiore einen irritierenden Reiz. In der pittoresken Idylle des Tessin scheint die Zeit in der Blüte der Vico-Torriani-Jahre stehen geblieben. Beim abendlichen Aperitiv im Yachtclub von Ascona gleicht der Blick auf den alpengesäumten See dem in das nahe Paradies. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Vor dieser Kulisse hebt sich das gesellschaftskritische Profil des Kleinen unter den vier großen Filmfestivals scharf ab. Engagement hat in Locarno Tradition. Irene Bignardi, Festivaldirektorin seit 2001, hat dieses Profil mit ihrer Filmauswahl und neuen Reihen wie dem Human Rights Program noch einmal geschärft. Von den Flüchtlingsproblemen in Afghanistan über den Krieg gegen den Irak bis zu den islamistischen Anschlägen 1993 in Bombay, die Anurap Kashyags in seinem Film Black Friday verarbeitet. Das dreistündige Epos mit seinen Thriller-Effekten erwies sich als die missglückte Form des Versuchs, eine dokumentarische Recherche in einen Spielfilm zu verwandeln. Unter Bignardis Ägide ist Locarno vielleicht eines der politischsten Film-Festivals geworden - ein Spiegel der Konflikte dieser Welt. Hoffentlich bleibt das so.

Wie man sie ästhetisch zu fassen hat, darüber gehen allerdings die Meinungen auseinander. An Volker Schlöndorffs neuem Film Der neunte Tag ließe sich zwar loben, dass er auf die konzentrierte Kraft eines Dialogfilms setzt. Seit Jahrzehnten hat es Schlöndorff als deutscher Regisseur gewagt, Bilder aus dem KZ zu inszenieren. Dieses Wagnis ist ihm gelungen. Doch Ulrich Matthes, der den luxemburgischen Priester Henri Kremer spielt, der für neun Tage KZ-Urlaub bekommt, nimmt man das penetrante innere Glühen nicht ab. Die religiöse Inbrunst, die ihn immun gegen die NS-Ideologie macht, wirkt hier nur wie eine erstarrte Grimasse. Und mit dem Klischeebild des türenschlagenden Nazi-Intellektuellen versöhnt auch August Diehls überlegene Mimik nicht.

"Mir geht es immer um die Moral", hatte Schlöndorff in Locarno sein Plädoyer für "ein Kino, in dem es wirklich um etwas geht" erklärt. Sein Drama mit dem Subtext: "Man kann sich für das Gute entscheiden, wenn man wirklich will" macht sich gleichsam unwiderlegbar, weil es den historischen Fall des Abbé Jean Bernard verfilmt, der sich nach seiner Bedenkzeit nicht gegen die katholische Kirche wenden will. Ziehen wir einen gewagten Vergleich, um die Frage nach den Chancen des Zweikampfs zwischen dem europäischen Erzählkino sozialliberaler Prägung und den kalten, moralfreien Produkten aus Hollywoods kulturindustriellem Komplex beurteilen zu können: Der hermetisch dumpfe Jason Bourne alias Matt Damon in Paul Greengrass´ Remake des 2002-Thrillers Bourne Identity mit dem einfallsreichen Titel Bourne Supremacy ist sozusagen das mimische Gegenprogramm zu Schlöndorffs Kremer. Der Film erzählt die Geschichte eines Killers, der sich aus dem Gefängnis der Erinnerungslosigkeit befreien will. Die Bilder, die aus seiner unerreichbaren Vergangenheit aufquellen und die überdrehten Verfolgungsjagden in Moskauer Autotunneln werden Feingeister wahrscheinlich als den üblichen Action-Stuff abtun. Doch gegen die gefahrlos-behäbige Machart von Schlöndorff sind Greengras´ rasante Schnitte und Überblendungen fast schon Avantgarde.

Wenn sich der Film nun schon so massiv auf das ästhetisch reizvolle Bild des Gefängnisses einlässt, kann er auch Auswege daraus zeigen? Sicher glauben nur Menschen, die die Kunst mit einer Gebrauchsanweisung verwechseln, dass die aufbegehrenden Internatsschüler aus den siebziger Jahren, die am Ende von Jean-Jacques Zilbermanns Pubertätsdrama Les Fautes d´Orthographie die Faust ballen und "Rebellion" rufen, ein Vorbild für unterdrückte Zeitgenossen sein könnten. Und würde es dumpfe Hooligans zur Vernunft rufen, wenn am Ende des Films Football Factory der humpelnde Tommy Johnson aus den Londoner Suburbs seinen Kumpeln im Pub nicht zurufen würde: "Es hat sich gelohnt", sondern: "Kehret um!"? Der Film hatte wegen seiner scheinbar fröhlichen Prügelszenen in Locarno zu heftigen Zuschauerreaktionen geführt.

Wie begrenzt die realitätsverändernde Kraft der Bilder ist, konnte man an der schweizer-italienischen Grenze selbst sehen. Seit dem vergangenen Jahr soll die neue Festival-Reihe Portes Ouvertes die Augen für fremde Kulturen öffnen. Konnte man 2003 Filme aus Kuba und Argentinien sehen, liefen in diesem Jahr gut 30 Filme aus den Mekong-Ländern Laos, Kambodscha und Vietnam über die Leinwand. Ästhetisch mögen sich damit Türen geöffnet haben. Politisch keineswegs. Pünktlich zur Eröffnung des Festivals musste das Rote Kreuz im Kanton Tessin nach Protesten der Anwohner vier Asylbewerberheime schließen.

Wie schief aber auch die umgekehrte Anverwandlung des Fremden gehen kann, zeigte der Filmemacher Patrice Leconte mit seinem Musikfilm Dogora. Bilder seiner Reisen in das einstige Großgefängnis Pol Pots hatte er mit der pathetischen Musik des französischen Komponisten Etienne Perruchon unterlegt. Womöglich wollte der Filmemacher den Armen auf der Müllkippe und den Näherinnen in der Fabrik mit dieser pathetischen Ästhetik eine neue Würde geben. Er hatte sie aber nur zu Statisten einer grotesken Ethnosehnsucht gemacht. Mit seinem Experiment in Sachen drehbuchlosem Musikfilm wollte sich Leconte wenigstens ein Mal aus einer eingefahrenen Tradition befreien. Doch er blieb im Gefängnis des Westens.


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