Vorwärts, zum Prekariat!

Ammenmärchen Adrienne Goehler sieht die Künste als Avantgarde der Flexibilisierung

Vielleicht sind linksprogressive Künstler deshalb so gefragt auf dem Kunstmarkt, weil sie scheinbar kritiklos in neoliberalen Verhältnissen leben und arbeiten. Und dann scheiss ich doch auf ihre Inhalte." Ob Adrienne Göhler schon gehört hat, was Rene Pollesch eine Figur in seinem Stück Cappuccetto Rosso sagen lässt, das zur Zeit im Berliner Prater läuft? Vielleicht hätte sie sich die Idee von der Verflüssigung noch einmal überlegt. So wie sie in ihrem gleichnamigen Buch die ganze Gesellschaft so arbeiten lassen will wie die Künstler, über die Pollesch da lästert, muss sie damit rechnen, dass sie als Apologetin dessen wahrgenommen wird, was der unbotmäßige Stardramatiker in seinen Stücken aufs Korn nimmt: den ganzen Irrwitz der neoliberalen Verhältnisse.

Was denn. Ausgerechnet Adrienne Göhler, die parteilose, angegrünte Frauenrechtlerin, eines der letzten Feindbilder der Rechten, eine gestandene 68erin, ehemalige Präsidentin der Hamburger Kunsthochschule, die Frau, die der Berliner Tagesspiegel zu ihrem Amtsantritt als Kultursenatorin im rot-grünen Übergangssenat von Klaus Wowereit als Die Kämpferin bejubelte - eine Neoliberale? Das klingt nach einem Missverständnis. Doch wie soll man es anders nennen, wenn eine linke Politikerin Sätze wie diesen schreibt: "Eine Kulturgesellschaft müsste die geronnen Formen, in denen die hierarchischen Ordnungsbeziehungen von Rechts-, Sozial- und Kulturstaat erstarrt sind, verflüssigen".

Adrienne Goehler spricht nicht wie der Blinde vom Sehen. Kunst und Kultur sind das Lebenselixier der unkonventionellen Politikerin mit den berühmten Ohrringen aus Kronkorken. Kultur ist für sie kein Charity-Hobby, sie setzt auf Kultur als Gesellschaftskritik. Als der Hauptstadtkulturfonds im Sommer 2003 die RAF-Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken finanzieren wollte, brach ein Sturm konservativer Empörung über seine Kuratorin herein. Goehler gehörte zu den geistigen Müttern der umstrittenen Zwischennutzung des Palastes der Republik als Volkspalast. Und nicht nur in ihren fünf Jahren beim Hauptstadtkulturfonds war sie den Künsten näher als manch andere Politiker. Zu Recht kritisiert sie, dass die etablierte Politik ein "strategisches Interesse an einer Nähe zur Kunst bei weitgehendem Desinteresse für die Kunst selbst" auszeichnet.

Das hält sie nun aber leider nicht davon ab, sie ebenfalls zu instrumentalisieren. Goehler rollt die Frage nach einer neuen Kulturpolitik in einem größeren Zusammenhang auf. Sie sieht das Ende der klassischen Arbeitsgesellschaft gekommen. Und glaubt nun in der Kunst und ihren Produzenten das entscheidende Werkzeug gefunden zu haben, das eine neue Gesellschaft, eben die Kulturgesellschaft kreiert. Das klingt einigermaßen spannend. Vor allem, weil endlich einmal jemand Kultur und Arbeit zusammen denkt. Bei näherem Hinsehen verwischen sich allerdings die Grenzen zwischen dem geschichtsmächtigen Epochenbild und der neoliberalen Wandmalerei.

Es fängt schon damit an, dass Goehler dem guten alten Sozialstaat etwas umstandslos den Laufpass gibt. Weil der französische Philosoph Michel Foucault ihn einmal "autoritäre Zumutung" genannt hat, dürfen wir ihn also abhaken. Nähere Untersuchungen zum Wahrheitsgehalt des Zitats finden nicht statt. Ernster muss man ihren Hinweis auf die Erosion der Vollerwerbsgesellschaft nehmen, auf der er fußt. Goehler hält seine Wiederherstellung für illusorisch. Für sie besteht das revolutionäre Kunststück darin, sich mit seiner Auflösung abzufinden. Und am besten kann man die prekäreren Lebensverhältnisse, die nun auf uns alle zukommen, so ihr Mantra, von der Kunst lernen.

Dass man beim Arbeiten mehr experimentieren, improvisieren und ausprobieren könnte, wird man Goehler noch zugestehen. Und bei der Aussicht, Arbeit könnte, wie die Kunst, in Zukunft eine "Möglichkeit der Selbstdefinition" sein, würden wir sofort auf unser Recht auf Faulheit verzichten. Aber ob auch alle so unsicher, von Auftrag zu Auftrag und ohne Absicherung leben wollen, wie es Künstler meist zwangsweise müssen? Joseph Beuys´ Motto "Jeder Mensch ist ein Künstler" klingt bei Goehler wie "Jeder Mensch ist ein Freelancer". Alle zusammen bilden sie das "kreative Milieu", das Goehler zum neuen historischen Subjekt für die postmaterielle Kulturgesellschaft ausruft - eine Fusion aus den cultural creatives der Soziologen Ray und Anderson und der creative class des Soziologen Richard Florida. Freilich lebt dieses Milieu schon jetzt auf einer materiellen Schattenseite, von der man sich nur schwerlich wünschen kann, dass sie sozialisiert wird.

Goehler weist selbst auf die "lausigen Einkommensverhältnisse" der Künstler hin, die oft nur mit einem Zweitjob überleben können: Durchschnittsjahreseinkommen 11.000 Euro. Doch wer in diesem Buch Ideen sucht, wie man diese Existenzen langfristig besser stellen könnte, findet nur den vagen Hinweis auf eine Grundsicherung. Stattdessen wirbt sie unverdrossen dafür, die euphemistisch "experimentellen Selbstverhältnisse" der Kunst genannten Ausbeutungsbedingungen "für den gesellschaftlichen Gebrauch zu öffnen" und "Wege für gestückelte Existenzen zu ebnen". Spätestens da schnurrt ihre große Vision einer Gesellschaft, deren "Leitidee das Kulturelle" ist, zu einer kulturell verbrämten Form von Privatisierung und Flexibilisierung zusammen. Vorwärts und nicht vergessen - die Solidarität, mit diesem Slogan kann Goehler nichts mehr anfangen. Vorwärts, zum Prekariat ist ganz offenbar ihr neues Motto. Vor dieser Kulturrevolution auf Honorarbasis braucht das Kapital keine Angst zu haben.

Gewiss ist es höchste Zeit, über eine neue Kulturpolitik nachzudenken. Und Goehler sagt viel Richtiges über den Mangel an ästhetischer Bildung, über Kreativität als Bedingung der Ökonomie und über die steigende Bedeutung der Kulturwirtschaft. Die neuen, postindustriellen Dienstleistungen, vom wissenschaftlichen Thinktank über die Musikindustrie bis zum creative hair cut haben die klassischen industriellen Investitionsbereiche längst überflügelt. Zu Recht kritisiert Goehler, dass Bund, Länder und Kommunen die Erkenntnis aus den "Kulturwirtschaftsberichten" immer noch viel zu wenig nutzen. Ihr Buch ist auch eine Liebeserklärung an die Künste und die überfällige Ehrenrettung dieses vernachlässigten Kreativpotentials. Aber Kunst und Kultur wegen ihrer Investitionswirkungen und Arbeitsplatzeffekte zu fördern ist genauso eine Umweglegitimation der Kunst wie der Versuch, die "Gestaltungskompetenzen" der Kunst in erster Linie sozial in Dienst zu nehmen.

Goehler nennt zwar interessante Beispiele dafür, wie sich Künstler mit sozialen Brennpunkten beschäftigen: die Londoner Healing Houses beispielsweise, wo KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und GesundheitspolitikerInnen kulturell inspirierte Krankenhäuser erproben, die ein anderem Krankheits- und Patientenbild folgen. Es ist auch nichts gegen die Verarbeitung von Hartz IV auf dem Theater zu sagen. Doch wie steht es mit Kunst als Eigenwert? Wie mit einer Kunst, die sich zu nichts weiter berufen fühlt als zu l´art pour l´art? Kunst als Avantgarde der Prekarisierung und als Sozialtherapie - Goehler führt die notwendige Diskussion um die Rolle der Künste in einer Kulturgesellschaft der Zukunft reichlich eng.

Um so weiter ist der philosophische Horizont, den sie in diesem Buch auf- oder besser: anreißt. Von Platon bis Pollesch, von Montesquieu bis Bourdieu bemüht Goehler alle Denker der Weltgeschichte mit einem passenden Zitat zu ihren Gunsten. Ein eigenes Konzept sucht man in diesem philosophischen Ratatouille allerdings vergebens. Mal spricht sie blochisch-nebulös von der Situation des "nicht-mehr-und-noch-nicht", beschwört das "Wachkoma" einer Gesellschaft im Reformstau und preist die Künste als "Spezialisten des Übergangs". Ihre Definition der Kulturgesellschaft fällt denkbar schwammig aus: "Die Kulturgesellschaft hingegen hat ihren Ausgangspunkt in der Tätigkeit, im herstellenden Handeln, einer durch Kultur aktiv getragenen Gesellschaft, die sich ihre Gemeinschaft auf der Grundlage politisch motivierter normativer Entscheidungen kreativ erarbeitet". Schöner hätten es Dieter Hundt oder Guido Westerwelle auch nicht sagen können. Und dass die Idee von der "Vita activa" Hannah Arendts, die Goehler zitiert, als Rechtfertigung einer Politik herhalten muss, die verdächtig nach FDP aussieht, hat die Grande Dame der Philosophie eigentlich auch nicht verdient.

Auf der Werbetournee für ihr Buch quer durch die Republik wurde Goehler in den letzten Monaten nicht müde, zu betonen, sie habe ein Buch gegen den neoliberalen Zeitgeist geschrieben. Leider widerlegt das Buch die Beteuerung seiner Autorin Satz um Satz. Ihre eingangs gestellte Frage, was der Staat in der Kultur "auch weiterhin leisten" müsse, beantwortet sie nicht. Stattdessen kredenzt sie Floskelsalat a la BDI: "Wir brauchen eine Regierungskultur, die sich durch erkennbaren Veränderungswillen und die Bereitschaft auszeichnet, in einem transparenten Prozess aus dem gesellschaftlichen Stillstand herauszufinden". In eine schwarz-grünen Koalition der Zukunft wäre Göhler mit solchen Sprüchen die natürliche Anwärterin auf das Kultur-, besser noch auf das Innovationsministerium. Die Feministin stützt sich ungeprüft auf Richard Sennetts Befund, der alte Sozialstaat sei ein "Ammenstaat". Doch solange sie nicht deutlicher erklärt, wie sich ihre Kulturgesellschaft von den neoliberalen Modellen unterscheidet, bleibt diese "Vision" hoffentlich ein Ammenmärchen.

Adrienne Goehler. Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. Campus, Frankfurt/New York, 276 S., 24,90 EUR


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