Die Zeichen an der Wand. Der irakische Diktator Saddam Hussein hat sie schon so oft gesehen, dass kaum zu erwarten steht, dass er wie weiland König Belsazar erbleichen wird, wenn demnächst an der großen Stimmtafel im Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrates in New York vielleicht doch das Abstimmungsergebnis über ein UN-Mandat gegen Husseins Regime in roten Zahlen aufflackern wird.
Der Vergleich ist nicht weit her geholt. Denn Saddam Hussein pflegt ein inniges Verhältnis zur Geschichte. Das Menetekel, das dem assyrischen König Belsazar ungefähr 600 Jahre vor Christus das Herrscher-Leben gekostet haben soll, erschien dem Potentaten im Palast seines bekannteren Vorgängers Nebukadnezar II. In einem Akt bewusster Blasphemie entweihte Belsazar das erbeutete Tempelgeschirr der Juden beim Trinkgelage. Direkt neben dieses historische Gemäuer hat sich Saddam Hussein einen eigenen Palast erbauen lassen. Was auch ein Menetekel ist. Der Chaldäer überrannte bekanntlich Syrien, Palästina und Ägypten. Er eroberte Jerusalem, zerstörte den Tempel und führte die Juden in die babylonische Gefangenschaft.
Husseins Palast haben die beiden Journalisten Alfred Diwersy und Gisela Wand nur gesehen. Ihn zu fotografieren, war ausnahmsweise streng verboten. Über die Motive für ihre Irak-Reise im Sommer 2000 geben die beiden Journalisten in dem Essay, den sie ihrem opulenten Bildband mit dem Titel Irak - Land zwischen Euphrat und Tigris beigegeben haben, keine genauere Auskunft. Sie wollten die kurze Zeit der Öffnung des Landes vor zwei Jahren wohl einfach nutzen und einmal nicht nur Giftgasfabriken, Raketenstellungen und Atomdepots sehen. Das dürfte auch schwierig geworden sein mit zwei ständigen Bewachern im Schlepptau. Vielmehr ging es ihnen um die Zeugnisse von ein paar tausend Jahren Geschichte und den Lebensalltag.
Ohne größere Schwierigkeiten bekamen die beiden Zutritt zu den meisten, sogar zu vielen islamischen Heiligtümern. In den Orten Kerbela, Nadjef und Kufa, südlich von Bagdad durften sie die Heiligenschreine von Mohammeds Schwiegersohn Ali und seines Enkels Hussein besuchen, den Urvätern des schiitischen Islam. Hier steht schon der Schrein für den 12. Imam bereit, dessen Ankunft die Schiiten ersehnen. Die sind im Irak eigentlich eine Minderheit und wurden von Saddam Hussein 1992 zusammen mit den Kurden blutig unterdrückt. In Kerbela lebte zeitweilig der Ayatollah Chomeini im Exil.
Auf ihrer Reise entdeckte das Journalistenpaar erstaunt, dass sich das Regime in Bagdad den Erhalt seiner historischen Stätten einiges kosten lässt. Sogar ausländische Forscher dürfen dabei mithelfen. Herrschaft braucht eben Geschichte, um sich zu legitimieren. Die klassisch dokumentierenden Aufnahmen in dem dicken Band feiern diese vielfältige Geschichte des Landes und den Alltag in Basaren und auf der Straße so bunt und schwelgerisch, dass man sich zu fragen beginnt, wo denn nun eigentlich die Diktatur beginnt. Oder wo der Golfkrieg Spuren hinterlassen hat. Auch Industrie, Handel oder Politik kann man nur erahnen. Doch dass es sich bei ihrem Fotoband um lancierte Propaganda für ein blutiges Regime handeln könnte - nach dem Motto: Völker der Welt schaut auf die Wiege Eurer Kultur! - kann man bei dem Renommee der Autoren ausschließen. Sie sparen nicht mit regimekritischen Seitenhieben auf Saddam und seine Machtclique, die aufrüstet, "während das Land daniederliegt". Und mokieren sich über die götzengleiche Verehrung, die Hussein an allen Ecken und Enden seines Landes genießt. Mal sieht man ihn als Völkerhirten, mal als Militär, mal begrüßt der Schlächter seiner Völker auf Mosaik die Reisenden leutselig an der Grenze.
Eine Reise in den Irak ist ein Reise durch die Historie wie vielleicht keine zweite. Wenn das überdehnte Wort vom Weltkulturerbe noch einen Sinn hat, dann vielleicht in dem Land Abrahams, Jonas´ und Alexander des Großen. Hier stand der Turm von Babylon, hier sollen die hängenden Gärten der Semiramis Schatten gespendet haben. Um die Städte Ur und Uruk liegt nicht weniger als der Ursprung der Menschheit. Und um die Palmenhaine von Kurna, dem Ort, an dem Euphrat und Tigris zusammenfließen, kann man sich das Paradies schon vorstellen. Diwersy und Wand sind zunächst in das alte Babylon, dann in den Süden nach Basra und schließlich in den Norden gefahren. Überall sticht das unvermittelte Nebeneinander von prämoderner Hochkultur und spätmoderner Betonkultur hervor. In Ukhaidir finden sie die geheimnisvoll abweisende Wüstenfestung der Abbasiden. In Samarra, 110 Kilometer nordöstlich von Bagdad, sehen sie das architektonische Wahrzeichen des Irak, das 50 Meter hohe Spiralminarett. Auf die Spitze des imposanten Bauwerks in der Stadt, die im neunten Jahrhundert n.u.Z. 56 Jahre Hauptstadt des Sassanidenreiches war, sollen die Kalifen mit dem Pferd hinaufgeritten sein. Die Betonpyramide im babylonischen Stil eines Hotels im nordirakischen Mosul dagegen zeigt etwas von dem hilflosen Versuch des Wüstenstaates, der die alten Weltreiche beerbt hat, via Architektur an diese historische Kontinuität anzuknüpfen.
Dazwischen hausen die Menschen noch wie vor zweitausend Jahren. In den Kanälen des fruchtbaren Schwemmlandes zwischen Euphrat und Tigris nahe dem Shatt-al Arab im Süden transportieren sie ihre Lasten noch auf einem gewölbten Brett durch das Wasser. Und wer gesehen hat, wie sie in einer Ziegelei im Süden des Landes noch Backsteine wie zu Zeiten des Turmbaus von Babylon herstellen, fragt sich, ob das das Reich des Bösen ist, von dem George Bush und Tony Blair Angst haben, in Kürze verschlungen zu werden.
Den Irak sieht man derzeit meistens von oben. Die Welt fixiert das Land zwischen Euphrat und Tigris nur noch im Fadenkreuz des strategischen Interesses: Luftbilder, Lagepläne, Satellitenaufnahmen - strategische Abstraktionen. Diwersy und Wand haben sich die Mühe des Augenscheins gemacht. Dabei sind sie sogar auf freundliche Menschen getroffen. Als sie in Assur, dem mythischen Ur-Ort des Assyrer-Reiches, am alten Palast entlanglaufen, kommen ihnen ohne Scheu Schulkinder entgegen und sprechen sie auf Englisch an. Das macht das Regime von Bagdad nicht menschlicher, aber lässt die realen Menschen, die dieses Land bevölkern, nicht außer Acht. Tausende seiner eigenen Landsleute hat Hussein auf dem Gewissen. Diwersy und Wand erinnern an die Vergasung der irakischen Kurden durch Hussein. In diese blutigen Widersprüche dieses Landes führt der Fotoband nicht gerade ein. Aber wenigstens sieht man diesen denkwürdigen Landstrich mit großer Geschichte hier und da von unten.
Wenn es vielleicht eine historische Lehre gibt, die dieses Grabungsfeld der Menschheitsgeschichte bietet, dann die der Wellenbewegung der Macht. Noch jedem Aufstieg einer der vielen Potentaten seit den Sumerern zum "Herrn aller Länder" folgte ein Absturz auf die Höhe der Schilfhäuser, in denen die Menschen im Marschland des Südens ihre Gäste noch immer auf Boden aus gestampftem Estrich bewirten. Rundherum verwittern die steinernen Zeugen der Macht.
"Encourage the people" hat der in London lebende pakistanische Schriftsteller Tariq Ali kürzlich auf dem Berliner Literaturfestival als Alternative zum Präventivkrieg im Nahen Osten empfohlen. Die Völker müssten ihre Geschicke selbst ordnen, wenn sie von Dauer sein sollen. Das mag der steinigere Weg sein. Doch für Saddam könnte das zum furchteinflößenderen Menetekel werden. Denn wenn die "Karriere" des zunächst westkompatiblen, eher laizistischen Revolutionärs etwas zeigt, dann den historischen Wiederholungszwang der da lautet: Der nächste Diktator kommt bestimmt!
Irak - Land zwischen Euphrat und Tigris. Von Alfred Diwersy und Gisela Wand, Gollenstein-Verlag, Blieskastel 2001, 444 S., 481 Farbfotografien, 65 EUR
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