Weltreich

Berliner Abende Wenn die Kellner Gleichmut tragen. Stehen sie vor dem Caffe Florian auf der Piazza di San Marco. Und warten. Sie haben die Augen immer geöffnet. ...

Wenn die Kellner Gleichmut tragen. Stehen sie vor dem Caffe Florian auf der Piazza di San Marco. Und warten. Sie haben die Augen immer geöffnet. Nichts entgeht ihrem Blick. Kein ausgespuckter Olivenkern, nicht der kleinste, zu Boden geglittene Kaffeelöffel. Doch sie erstaunt nichts mehr. Denn sie haben schon alles gesehen. In Venedigs ältestem Café blicken sie mit den Augen Casanovas oder Lord Byrons. Die hier schon diese kleinen, von Schokolade umhüllten Kaffeebohnen gelutscht haben. Die tragen jetzt verschwitzte Touristen in knisternden Cellophantüten nach Hause. Sie schwanken und glotzen, schieben sich über die schief und glatt gelaufenen, schwarz-weißen Marmorböden des Arkadenganges der Procuratie Nuove.

Die begrenzte Würde dieses pizzamampfenden Malstroms übersehen diese Kellner. Immer blicken sie zuvorkommend. Doch die Rollläden hinter ihren nimmermüden Augen haben die kerzengeraden durch die Menge segelnden Männer heruntergelassen wie die weißen Leinenvorhänge zwischen der endlosen Folge schwarz angelaufener Säulen um die Arkaden. Noch drückt die Hitze auf den Platz. Alle suchen den Schatten der Arkaden. Derweil schreiten die Kellner mit der Würde von Admirälen in ihren weißen, zerschlissenen Jacken mit Goldtressen auf den Schultern die Gänge zwischen den ausgeblichenen Korbreihen ab, wo sich nur ein paar Touristen in die Sessel gedrückt haben. Auf tausend Trippelzehen folgen ihnen wie gehorsame Adjutanten die Heerscharen der Tauben.

Diese Männer blicken genau. Aber sie schauen niemandem in die Augen. Auch nicht in die Geldbörsen. Bestellungen nehmen sie mit einem kaum merklichen Nicken entgegen. Wie Bittgesuche. Ohne den Weg nach vorne zu unterbrechen. Nur der jüngste von ihnen beugt sich manchmal noch etwas zu weit herunter. Am Rand des abgezirkelten Rechtecks aus den Sitzgruppen in der Mitte des Platzes bleiben diese Männer stehen, kreuzen die Arme hinter dem Rücken und blicken in die weite, weite See. Manchmal stehen drei von ihnen zusammen, lassen die Blicke schweifen. Eine entspannte Generalstabsbesprechung in tadelloser Haltung. Ohne Waffen. Ohne Ergebnisse. Mit ein paar Armbewegungen deuten sie ans andere Ufer, zu den Arkaden gegenüber. Hin und wieder ein Kopfschütteln. Warten. Stehen. Schauen.

Doch der Doge kommt nicht mehr. Stattdessen naht von links eine zierliche junge Frau. Sie hält einen weinroten Kreis auf einer Stange hoch. Ihr folgt ein Trupp Weißhaariger in Karohosen. Alle haben den gleichen weinroten Kreis auf ihre hellen Sommerblusen geklebt. Müde marschieren sie auf die Basilika zu und münden in das Meer der Prozessionen. Oben hält der goldene Löwe die Pranke fest auf der goldenen Speisekarte. Drei goldene Figuren tanzen auf einer Stangenspitze. Die Sonne sinkt über die Spitzen der Kolonnaden, bricht das Licht wie in einem Prisma, taucht den Platz für ein paar Minuten in orangefarbenes Dämmerlicht. Ein Wiener Walzer tönt auf. Dann klingt es plötzlich nach Rosamunde. Wie bei einem Marathontanz wechseln sich die Orchester mit volkstümlichen Weisen ab. Ein Paar tanzt auf dem dunkler werdenden Platz. Ein Kellner winkt dem Andenkenlädchen auf vier Rädern hinterher, das gerade mit wehenden Luftballons, leuchtenden Jojos und Tüten, prall gefüllt mit buntem Puffreis, herrenlos über den Platz rollt.

Drei japanische Studenten überqueren im Zickzack die Piazza. Sie halten ein Messgerät vor die Augen, blicken die Gebäude hinauf und wieder hinab und dann wieder in die Sternennacht. Sie können jetzt keine Fragen beantworten. Mit ernstem Gesicht notieren sie Zahlen in eine Kladde. Hier muss es irgendwo gewesen sein. Oder hier? Mit weißer Kreide markieren sie auf dem von zertretenen Maiskörnern übersäten Boden die Umrisse eines unauffindbaren Weltreichs. An zwei Krücken, in den Schatten einer Säule gelehnt, schaut ihnen eine weißhaarige Serenissima im grünen Strickkleid zu. Was für ein böses, zerfurchtes Gesicht. Ihre schiefe Hornbrille will so gar nicht zu der randlos verspiegelten Nuove Gucci ringsherum passen. Manuel ist mein Starren unangenehm. "Lass uns gehen", drängt er. "Siehst du nicht, sie stirbt. In dieser Stadt gibt es nur Sterbende." Von rechts wandern langsam die tausend Lichter eines riesigen Luxusliners über den rosafarbenen Dogenpalast. Sein Stahl schrammt auf das steinerne Lagunenschiff. "Hüte dich vor dem Platz zwischen den Säulen", hieß ein alter venezianischer Spruch. Es hat genau zwischen den Säulen mit dem Heiligen Theodor und dem bronzenen Löwen festgemacht. Von der anderen Seite des Platzes wehen die letzten Takte von "Dont cry for me Argentina" herüber, bevor ein matter Beifall aufbrandet. Ein Kellner fegt den ewigen Schleier aus Taubenfedern in die Luft. In einer langsamen Spirale trudeln sie zurück zu Boden, werden wieder aufgewirbelt, fallen zurück. Nacht sinkt über Venedig.

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