Wenn man einsam ist, ist man sicher

VON INNEN Der achte open mike-Literaturwettbewerb in Berlin übte sich im »Schnellverfahren«

Text sein, heißt in der Welt sein. Misst man die Texte, die beim achten open-mike-Literaturwettbewerb vergangenes Wochenende in der Pankower LiteraturWerkstatt im Norden Berlins vorgelegt wurden, an dieser unentrinnbaren Grundmaxime des Schreibens, wie sie der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftlers Edward Said aufgestellt hat, gibt es ein in der Welt sein, das so bei sich ist, dass die Welt kaum noch zu spüren ist. Das klingt nach einer Banalität. Wie soll man denn anders in der Welt sein, als in seinem ganz intimen Ich? Und doch ist der innere Raum, in dem sich junge Nachwuchsliteratur in Deutschland überwiegend aufhält, auch eine Aussage über die Welt. Immerhin dieser regelmässige Einblick in die Psyche junger Nachwuchsautoren verdankt sich dem jährlichen deutschen Literaturwettbewerb im Herbst.

Nicht unbedingt, dass die Kunst den Kontakt zur Welt verloren hätte. Immer wieder blitzen in den Texten Sozialpartikel auf. Die Folgen der Rationalisierung etwa in Jan Brandts Ende der Probezeit. In der Geschichte des Berliner Autors sublimiert ein Büroangestellter sein sich anbahnendes Überflüssigwerden in boshaften Rentnergeschichten, die er nach Dienstschluss schreibt. Da klappen die alten Herrschaften schon mal am Kottbusser Tor ihre Springmesser oder erschiessen ihre Rottweiler im Wald. Einer gewissen Beliebtheit erfreuen sich immer noch billige pulp-fiction-Adaptionen, mit denen es unter anderem Sibylle Berg zu zweifelhaftem Ruhm gebracht hat. Bei Tina Uebel aus Hamburg marschieren in The Good, the bad and the ugly zwei über den Jahrmarkt und kanalisieren ihren Frust über den Spießeralltag in einer kleinen fiktionalen Massenschlachterei unter Prollpärchen und Plüschtieren. Im Osten ist die Realität noch realer. Die Grenze, die der kleine rumänische Junge in Catalin Florian Florescus Geschichte überschreitet, um nach Italien zu fliehen, hat noch einen richtigen Schlagbaum. Doch schon bei der am einmütigsten zur Siegerin erklärten Zsuzsa Bànk bleiben die zwei kleinen ungarischen Kinder nach der Flucht der Mutter in den Westen im Dämmerzustand des inneren Blicks auf die Welt. Trug ihre Geschichte auch den Hauch einer sehr sorgsam colorierten Elegie, beeindruckte doch, wie poetisch und absichtslos diese Autorin erzählen konnte.

Im Westen sind die Grenzüberschreitungen die Suche nach einem Weg über die innere Grenze. Die junge Frau, die sich in Martina Hefters Geschichte im Taxi zur Aufnahmeprüfung in der Tanzschule in Leipzig chauffieren lässt, sucht »den Eintritt in ein neues Leben«. Doch allzu selten gelingt der dazu notwendige Sprung über den intimen Horizont. Literatur bleibt zuerst einmal ein Mittel, sein Leben mitzuschreiben. Das ganz gewöhnliche und langweilige Leben im traurigen Alltag. In Die Nachbarin, einer Geschichte des Berliners Stefan Strehler, lädt eine Frau ihren Nachbarn, einen arbeitslosen EDV-Kaufmann, den sie morgens vor dem Briefkasten kennenlernt, zum Tee ein. Man kommt sich näher. Der alleinstehende Mann ist erfreut über das Interesse. Als er eines Tages zufällig in eine Buchhandlung kommt, sieht er ein Poster mit einem Bild von ihr. Das Buch, das davor liegt und das sie geschrieben hat, beginnt mit den Worten: »Zum ersten Mal traf ich ihn im Treppenhaus«.

So häufig, wie hier also Innenwelten ausgebreitet und verklammert wurden, war es mehr als gerechtfertigt, dass die Jury aus der deutsch-ungarischen Schriftstellerin Terezia Mora, open-mike-Preisträgerin des Jahres 1997, dem Schweizer Prosaisten Silvio Huonder und dem österreichischen Lyriker Gerhard Falkner einem Autor einen Preis gab, der beides verknüpfen konnte - innen und aussen. Das Gespräch, das sich in der Geschichte des 1969 in Karlsruhe geborenen Markus Ohrts zwischen zwei Menschen im Zugabteil entwickelt, lebt vom Unausgesprochenen. Der eine gerät in den Bann des anderen durch eine bewegungslose Geste, »etwas, das von innen zu kommen schien«. Und doch ist der suggestiv beschriebene Zweikampf zweier Ichs in einem aus Worten gemachten, aber mit den Händen zu greifenden Magnetfeld geistiger Präsenz auch eine Metapher für gesellschaftliche Macht. Die wenigen Texte dagegen, die direkt auf Gesellschaft reflektierten, Caroline Noacks Geschichte über einen Aktivisten der kommunistischen Parteijugend etwa, der als Wissenschaftler Karriere macht und eines Tages vom Auto überfahren wird, oder Ben Uwe Seiferts Geschichte eines Ehepaars, das sich in Afrika das Fremde anverwandelt, scheiterten an Klischees oder - einer der häufigsten Probleme - einem Erzähler, der sich immer wieder unbeholfen mit Zusatzinformationen einmischt.

Der Berliner open-mike wird als literarischer Nachwuchswettbewerb immer beliebter. Rund 540 Manuskripte gingen in diesem Jahr ein. Sorgsam sortiert wurden sie von dem Lektorat aus Angela Drescher vom Berliner Aufbau-Verlag, Alexander Fest vom Berliner Fest-Verlag, Marita Hübinger vom TV-Kanal 3-sat, Annemarie Ribitsch vom Klagenfurter Wieser-Verlag, Thomas Tebbe vom Münchener Piper-Verlag und Heinrich Vogler vom Schweizer Radio in Zürich. Die überfüllte Veranstaltung mit dem irreführenden Titel krankt aber daran, dass sie keinen Platz für Diskussionen lässt. Nach 15 Minuten Lesen klingelt der Wecker. Dann kommt der nächste. Es gibt keinen freien Block. Dieses letzte Relikt, das an die amerikanischen open-mike erinnert, hat dazu geführt, dass man in Pankow unter dem marktschreierischen Slogan wie bei einer Viagra-Werbung »In 15 Minuten zum Erfolg» mit der Katapultwirkung des Wettbewerbs in den - am nämlichen Wochenende immer zahlreicher versammelten - Literaturbetrieb wirbt. Die Talentscouts und Agenten stehen sich die Füsse platt. Ein merkwürdiges Profil für eine Einrichtung wie die LiteraturWerkstatt, die sonst gerne auf alternative Ansätze setzt. Ihr Leiter Thomas Wohlfahrt ist sich nicht zu schade, vom »Schnellverfahren» zu schwärmen, das einem vom open-mike-Sieger womöglich zum Bachmannpreisträger befördern könnte. Literatur, so kann man das übersetzen, heisst: einfach einsteigen. Schon geht's nach oben. Natürlich kann ein Wettbewerb nicht die ästhetische Großwetterlage beeinflussen. Doch angesichts der Tatsache, dass hier jedes Jahr beklagt wird, wie wenig AutorInnen sich an alternative und experimentelle Schreibweisen wagen, wie platt linear hier erzählt wird und wie wenig gesellschaftlich engagierte Literatur eine Rolle spielt, wäre es vielleicht an der Zeit, lieber über ein etwas inhaltlicheres Konzept nachzudenken.

Doch so clever und cool hier Promotion geübt wird, die allerjüngsten Jungautoren ihre Geschichten dahererzählen, ihre Connections pflegen und die Schultern zucken, wenn sie einen Preis mal nicht kriegen, so sehr hallt es doch aus dem Leerraum dahinter. So häufig auch in der jungen Literatur inzwischen die Handys klingeln. Junge Literatur heute vermisst oft genug das stille Innehalten im verunsicherten Ich. Der Ich-Erzähler, der bei Matthias Teitinger in einem Sportzentrum in der Provinz regungslos verhaart, bis er plötzlich mit einer Schar tippelnder junger Sumo-Ringer konfrontiert wird, weiss »nichts mit meinem Leben zu tun«. Der arbeitslose EDV-Kaumann in Stefan Strehlers Geschichte führt stumm und isoliert seine eigene Traurigkeit spazieren. Martina Hefter orientierungsloser Heldin wird es auf der Fahrt im Taxi plötzlich schlecht. Als sie aussteigt, verliert sie das Gleichgewicht. Sie sitzt in den Polstern des Autos, als wäre sie unsichtbar. Nur »wenn man einsam ist«, denkt sie sich »ist man sicher«. Aber nicht aus der Welt.

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