Wir lieben uns doch alle

Unheilbar Angelika Klüssendorfs Erzählungsband "Aus allen Himmeln"

Als Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit am 15. November 1989 vor die DDR-Volkskammer trat, folgte ein denkwürdiges Geständnis. Der geheimnisumwitterte Dunkelmann des real existierenden Sozialismus gab sich ungewohnt gefühlvoll und stammelte auf die Vorhaltungen zu seiner Rolle: "Aber ich liebe Euch doch alle." Mehr als einer fand Mielkes Rede beschämend und doch enthüllte sie einen wenig beachteten Unterstrom des sozialistischen Experiments. Die DDR - Geschichte einer enttäuschten Liebe?

Es ist verblüffend, wie sehr man Angelika Klüssendorfs neuen Erzählband Aus allen Himmeln als gesellschaftliches Komplementärbild zu dem denkwürdigen Liebesgeständnis des Staatsterroristen Mielke lesen kann, das inzwischen zum geflügelten Wort avanciert ist. Die 1958 in Ahrensburg geborene Autorin, die 1985 in die damalige Bundesrepublik übersiedelte und heute als Autorin in Berlin lebt, gehört so überhaupt nicht zu der neuen DDR-Spaßguerilla, die den Kalten Krieg um die deutsch-deutsche Vergangenheit mit Lust an der Ironie und der kontrafaktischen Erinnerung enttabuisiert. In ihren zehn kurzen Geschichten kommen zwar oft die Vertreter der Staatsgewalt, die Polizei vor. Doch die Worte Diktatur, Überwachungsstaat oder Stasi fallen nicht ein einziges Mal. In diesen Episoden einer Kindheit kommt die Unterdrückung von innen.

Mit der Manie, die letzten Reste der DDR-Biographie auf der publizistischen Resterampe feilzubieten, hat Klüssendorf nichts im Sinn. Gegen den Markttrend geht sie noch einmal einen Schritt hinter die neu entdeckte Generationserfahrung der um 1970 Geborenen zurück. Bei ihr scheint plötzlich noch einmal eine Kindheit zu Beginn der sechziger Jahre zwischen bröckelnden Häuserfassaden auf. Der Horizont ist dort so gritzegrau wie die tristen Industriereviere. Hier hat sich ein Menschenschlag eingerichtet, für den Desillusionierung eine euphemistische Bezeichnung wäre. Alkohol und emotionale Gewalt sind seine ständigen Begleiter.

Literatur ist, wenn man es anders sagt. Klüssendorf ist eine Literarisierung biografischer Momente geglückt, die den Namen wirklich verdient. Diese Autorin benutzt ihre Konstruktion nicht bloß als notdürftige Attrappe für biografische Schwatzsucht. In ihrem schmalen Buch ist ihr das Kunststück gelungen, Verdichtung und Andeutung so zu mischen, dass es nirgends in Kitsch oder Sentiment abgleitet - ein kleines Juwel in einem Meer von Kunstschmuck. Auf den ersten Blick lesen sich diese Geschichten wie Variationen zu dem altbekannten Thema: "Das Drama der Kindheit": Lebensmüde Väter bevölkern sie und lebensgierige Mütter. Zwischen diesen trostlosen Existenzen vegetieren wie in einem Zwischenreich die Kinder. Sie agieren als Statisten eines namenlosen Unglücks. Mal brechen sie aus. Doch dann führt der Weg schnell aufs nächste Polizeirevier oder ins Jugendgefängnis. Meist haben sie sich aber in das Unausweichliche gefügt.

Klüssendorfs Protagonistin ist immer dasselbe Mädchen. Mal wird es aus der Sicht ihres späteren Mannes, mal aus der Sicht der Mutter oder von anderen Kindern geschildert, mal tritt es selbst als Ich-Erzählerin auf. Die Autorin variiert mit dieser Episodenstruktur, mit zeitlichen Sprüngen und vor allem der Perspektivenvielfalt eine Technik, die zuletzt Christoph Hein in seinem Roman Landnahme virtuos angewandt hat: Die Wahrheit der Biographie ist keine Frage des einen, dominierenden Blicks, sondern der Perspektiven. Wer man ist, entscheiden die anderen mit. Die zeitgenössische Prosa zur Biographie in, mit der und gegen die DDR verengt mit ihrer Inflation von Ich-ErzählerInnen dagegen den Blick auf einen verwirrenden Lebensabschnitt. Und kommt so seiner Wahrheit kaum näher.

Es macht den dialektischen Reiz von Klüssendorfs Prosa aus, dass sie das eintönige Leben, das sie schildert, mit einem ungeheuren Reichtum an emotionalen Unter- und Zwischentönen ausstattet - eine Art Polyphonie der Tristesse. Gleichzeitig laufen alle ihre Perspektiven aber wieder auf einen Punkt zu. Dieser Punkt heißt Aussichtlosigkeit. "Es gibt kein Entrinnen" merkt das Mädchen, das von seiner Mutter wieder in die Kaufhalle zum Stehlen geschickt wird, nachdem diese gemerkt hat, wie geschickt es sich bei einem Diebstahl angestellt hat, bei dem es von der Polizei erwischt wurde. Wer sich in diesem emotionalen Drucksystem labiler, enttäuschter Gefühle behaupten will, muss seine eigenen kalkulieren lernen. "Ein toller Bauch" beruhigt das Mädchen, das selbst des Zuspruchs bedürfte, die verzweifelte Mutter, die ihre Schönheit schwinden fühlt und ausgerechnet bei ihren Kindern um Zuwendung bettelt. Es weiß, wann es loben muss. Kindheit ist kein Lebensalter. Kindheit ist eine emotionale Strategie. Wer die Erwartungen befriedigt, gewinnt Macht. "Oh ja, alles, was sie wollte. Ich war freigiebig, so wahllos freigiebig". Kein Wunder, dass es später Erzieherin wird.

Nach und nach schälen sich aus diesen Erzählungen bekannte Kulissen heraus: Der Konsum-Laden, ein Hinweis auf den Mauerbau oder in den Westen geflüchtete Nachbarn, ihre leeren Wohnungen, in denen man seltsame Dinge finden kann. Doch Klüssendorf stellt die DDR-Dingwelten nicht als Fetische aus, sondern möbliert ihre Erzählungen sparsam mit dem Interieur, das heute die Retro-Bedürfnisse der Besserverdienenden befriedigt: Yvette Intim-Creme, Selastikpullover und Goldbrand-Schnaps sind klug gewählte Requisiten eines psychologischen Wasteland. In diesen Geschichten geht es um Leben dritter Wahl. Das höchste Glück ist eine feuchte Nacht, von der die Mutter mit verschmiertem Lippenstift zurückkehrt, sich die blondlockige Perücke vom Kopf zerrt und sich anschließend im Klo übergibt.

Das Mädchen lernt, solche Szenen zu überhören. Doch stets spürt es dahinter "die Gier nach Leben, nach einem anderen Leben". In ihren Erzählungen kommt Klüssendorf ganz ohne Grenzschutzanlagen und Knäste aus. Kindheit als Gefängnis, die DDR als Straflager - trotz der historischen Kenntlichkeit zielt Klüssendorfs kafkaeskes Bild eines Systems von Strafe, Lüge und Selbsthass über die DDR hinaus. Repression ist ein Mangel an Chancen, ist die Abwesenheit von Glück. Das System der Unterdrückung hat sich unkenntlich gemacht dadurch, dass es die Protagonisten internalisiert haben. Bei Klüssendorf ist es in die Familie diffundiert. "Kraul mich" verlangt die Mutter immer wieder von ihrer Tochter. Das Mädchen ekelt sich vor deren Schuppen. Während es der Mutter auf den Kopf schaut, erkennt es wie mit Röntgenblick ihr verborgenes Unglück: "Ich spürte den angestauten Zorn unter dem Schädel meiner Mutter, die Wut, die sich wie in einem Gefäß gesammelt hatte."

Das Unbehagen an dem schlechten Leben im Schlechten kann sich aber nirgends Bahn verschaffen. Und über allem schwebt das perfide Bild, das nach der Wende neben Hammer und Sichel zur coolen Kult-Trophäe wurde. Eine jugendliche Ausreißerin in der Geschichte Dich kriegen wir auch noch unterschreibt ihr Vernehmungsprotokoll unter einem Honecker-Porträt: "Der Hintergrund des Bildes strahlte in einem allmächtigen sozialistischen Blau, das Lächeln des Staatsratsvorsitzenden kam mir unheilbar vor." Liebe ist nur die andere Seite der Gewalt. Selbstunterwerfung kompensiert man mit der Bereitschaft zu quälen - das System, das nicht nur die DDR zusammenhielt und als dessen letzter Vertreter sich Erich Mielke so spektakulär outete, schließt sich, wenn das Mädchen der prügelnden Mutter trotzdem zubilligt: "Etwas in mir dachte immer noch: Ich liebe dich."

Klüssendorf erzählt eindringlich, aber ohne naturalistisches Pathos. Im Gegensatz zu den oft so anämischen Produkten der Literaturschulen leben ihre Figuren, selbst wenn sie oft keine Namen haben. So ist es wirklich gewesen! behaupten trotzig die Bücher, die jetzt die Wahrheit über eine verlorene Zeit sagen wollen. Bei dieser Autorin lernen die fiktiven Protagonisten dagegen, die Wahrheit zu meiden, um am Leben zu bleiben. "Inzwischen war die Lüge für mich zur Wahrheit geworden" dachte sich das Mädchen einmal. Trotz der Schläge, mit der die Mutter ihre kleinere Schwester traktiert, gibt sie nicht zu, dass sie die 50 Pfennig, die diese schon seit Tagen vermisst, aus deren Portemonnaie genommen hat. Es macht die Faszination ihrer Prosa aus, dass Klüssendorf die Flucht in die Unwahrheit in die schönste Lüge zu verwandeln weiß, die wir kennen - in Literatur.

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Angelika Klüssendorf
Aus allen Himmeln
S. Fischer Verlag
EUR 14,90
ISBN 3-10-038202-1

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Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute lebt sie in Berlin. 1990 erschien im Hanser Verlag die Erzählung "Sehnsüchte", 1994 die Erzählung "Anfall von Glück"; es folgte 1995 das Theaterstück "Frag mich nicht, schieß mich tot" (Verlag der Autoren).


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