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Linksbündig Wer echt sein will, muss künstlich bleiben

Kantig. Echt. Erfolgreich". Mit diesem umwerfenden Motto wirbt die CDU Deutschlands für ihren Kanzlerkandidaten. Edmund Stoiber war uns bisher als gehemmter Aktenfresser mit aufgeklebtem Gamsbart und sorgsam einstudierten Wutausbrüchen bekannt. Doch plötzlich schaut uns da hinter der gläsernen Aspikschicht, in der die CDU-Bundeszentrale am Rande des Berliner Tiergartens dümpelt, der Hemingway des deutschen Konservatismus entgegen. Schaut her! ruft die christliche Bandenwerbung. Der Mann ist authentisch! Während der Gerhard durch die Talkshows tingelt, krempelt der Edmund in Bayern richtig die Ärmel hoch. Überhaupt, die Medien! Die sind ja sowieso schuld, dass die wahre, schöne, echte Realität sich auflöst wie ein Celluloid-Streifen im Säurebad. Bei allem muss man sich inzwischen fragen: Echt, ey? Echtheit hat Konjunktur. Doch ist diese wunderbare Eigenschaft mehr als eine Wahlkampffiktion?
Es hätte einer eigenen Tagung in der evangelischen Akademie Tutzing vergangenes Wochenende am Starnberger See eigentlich nicht bedurft, um die alte Gähnfrage "Wie ist unverfälschte Realität darzustellen?" kurz und knapp mit: Gar nicht! zu beantworten. Denn das Echte ist ein Mythos. Die Erde, die wir manchmal authentizitätssüchtig zwischen den Händen zerbröseln, weil wir uns einbilden möchten, wohin wir gehören, ist nichts weiter als das, was sich das Gehirn neuronal zurecht imaginiert. Eigentlich weiß keiner, was Erde ist. Außerdem ist leider immer noch das dazwischen, was der Kollege Heidegger das "Gestell" nannte. Mag sein, dass das gute alte Kino, wie die Berliner Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch noch ganz altmodisch glaubt, Essenzerfahrung provoziert. Ich weine, also bin ich! Grund des Tränenschwalls ist aber die wunderbar unechte Fiktion - technisch hergestellt.
Nach all den Goldschmieden der siebziger und den Bauchliteraten der achtziger Jahre stellen sich also erwartungsvoll alle poetischen Nackenhaare auf, wenn uns die Kunst wieder einmal glauben machen will, sie könne uns die ungeschminkte Realität näher bringen. Doch auch wenn die Theatermacher von der Berliner Schaubühne unverdrossen an einen "zeitgemäßen Realismus" glauben - wohin die ewigen Versuche, aus der Vermittlungsspirale auszubrechen, führen, zeigte schon der Film Nomaden der Lüfte. Da versuchte sich die neben den Zugvögeln mitfliegende Kamera in Leichtbauweise so unsichtbar zu machen, dass der Zuschauer sich begeisterte: Guck mal! Die Vögel! Und so nah! Unterlegt mit gregorianischen Chorälen feierte der verunglückte Streifen dann vollends das Hochamt der Naturreligion.
Neuestes Beispiel ist Ulf Poschard. Der Berliner Kulturwissenschaftler jubelt die Versuche des gefragten Modefotografen Jürgen Teller, mit Fotos ungeschminkter Models aus der Welt der Modefotografie auszubrechen, zum Endkampf zwischen "Wahrheitsfront" und "Verklärungsfront" empor. Poschard ist ein echt cooler Typ. Der es eigentlich besser wissen müsste. Aber dass er nicht noch von "entarteter Kunst" gesprochen hat, war reiner Zufall. Dergleichen mag das sozialrealistische Herz der Linken höher schlagen lassen. Bei Poschards euphorischer Formel von der "Desinfektion" der "Verkünstelung der Welt" schwant uns aber eher das Ende der Kunst. Oder bestenfalls humanistischer Kitsch.
Hätte der promovierte Popologe der Welt lieber auf die Tocotronics gehört. Selbst hartgesottene Realisten lernen nämlich dazu. Gaben sich die Boys von Deutschlands avanciertester Punk-Band bislang noch als die Apologeten von der düsteren Straße des Lebens. Auf ihre frühen Punkbrocken blicken sie auf ihrer neuen CD mit Nachsicht: "Der sogenannte Realismus fällt nicht weiter ins Gewicht" heißt es im Song: Hi Freaks. Aus dem Kokon des Realismus sind die Schmetterlinge des poetischen Pop geschlüpft, die den "Wald aus Zeichen" umflattern und flöten: "Eins zu eins" ist jetzt vorbei.
Ganz neu ist die Erkenntnis nicht. Die Bilder der ewig jugendlichen Schönen, die die österreichische Kaiserin Elisabeth in alle Bilder des kaiserlichen Hofstaats in Wien einfügen ließ, erinnern zwar an den Kollegen Stalin und seine eigenwilligen Geschichtsretuschen. Aber sie behauptete mit diesem Kunstgriff, so der Rostocker Germanist Helmut Lethen mit einiger Plausibilität, ihr authentisches Bild gegen die Vereinnahmung durch den öffentlichen Blick. Von Sissy lernen heißt siegen lernen. Beruhigt lehnen wir uns in die stabilen Polster der Fiktion und empfehlen den Realitätskämpfern aller Parteien Oscar Wildes erste Tugend als Wahlkampfparole: So künstlich wie möglich sein!

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