Zeit der Gewalt

Melodram Isabel Boltons beeindruckender Roman "Der Weihnachtsbaum"

Fest der Liebe - an diesen Spruch glaubt sicher niemand mehr in Zeiten, wo Weihnachten höchstens noch als Aphrodisiakum für das eingeschlafene Verhältnis zwischen Einzelhandel und Verbraucher taugt. Ansonsten sind die Feiertage meist ein habituelles wie emotionales Desaster: Eingekeilt zwischen zwanghaftem Kommerz und lästigem Ritual. Doch so massenhaft, wie hier das Private, Zwischenmenschliche zelebriert wird, grundiert Weihnachten immer noch ein unausgesprochenes Bedürfnis nach Emotionen. Die entspannte Gemeinsamkeit, die die gläubige Andacht ersetzen soll, gerät freilich oft genug zum blanken Horror. Im Zwangsverbund "Fröhliche Weihnachten" explodieren dann alle unerledigten Konflikte zwischen denen, die sich eigentlich "lieben" wollten.

Dass dieses Phänomen schon vor der Postmoderne und der Patchwork-Familie existierte, zeigt Isabel Boltons Roman Der Weihnachtsbaum. Am Ende des Jahres 1945 bereitet sich Hilly Danforth in ihrer New Yorker Wohnung auf ein Weihnachten mit der Familie vor. Zusammen mit ihrem Enkel Henry beginnt sie, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Sie wartet auf dessen Mutter Anne, ihre Schwiegertochter und deren Mann Larry, Hillys Sohn. Beide waren verheiratet. Doch Anne wollte die homosexuellen Affären Larrys nicht länger tolerieren und ließ sich scheiden. Jetzt hat sie in Reno Hals über Kopf den strammen Air Force-Captain Georg Fletcher geheiratet. Hilly hängt an ihrer Familie. Doch ihr schwant nichts Gutes, als beide gleichzeitig mit einem Telegramm ihr Kommen ankündigen.

Wie subtil sie die feinsten Verästelungen und verborgenen Abgründe des Mikrokosmos Familie auszuleuchten vermag, hat Isabel Bolton schon in ihren Romanen Mary und Grace und Wach ich oder schlaf ich gezeigt. 1883 als Mary Britton Miller geboren, legte die berühmte Kinderbuchautorin im Alter von 63 Jahren mit diesen drei Romanen ihr vielbeachtetes Debüt als Romanschriftstellerin vor.

Auch in Der Weihnachtsbaum bedient sie sich einer schwierigen Technik. In drei inneren Monologen lässt sie Hilly, Larry und Anne ihr Leben Revue passieren. Wie die Mutter da das ambivalente Verhältnis zu ihrem schwulen Sohn resümiert, wie Anne ihrer Schwiegermutter innerlich Vorwürfe macht, Larry allzu sehr als Künstler vergöttert zu haben, trotz ihrer Scheidung aber immer noch fasziniert ist von seiner "edlen" Erscheinung; und wie eben dieser Larry darüber verbittert ist, dass die eigene Mutter seine Frau bei der Scheidung unterstützte - in diesen Bewusstseinsströmen entsteht das filigrane Psychogramm einer Familie mit seinem typischen Netz aus Prägungen und Abhängigkeiten, Liebesbeweisen und Kränkungen. Unerbittlich und doch mit unendlich viel psychologischem Feingefühl legt Bolton die Stärken und Schwächen jedes Charakters frei. Mit diesen fließenden Selbsterkundungen in der Tradition von Marcel Proust und James Joyce bewies die 1975 in New York gestorbene Autorin ihren eigenen Rang neben literarischen Zeitgenossinnen wie Virginia Woolf und Djuna Barnes.

Bolton schreibt aber nicht nur eine amerikanische Familiengeschichte. Spannend zeigt sie, wie das politische Drama der Zeit, die Auflösung der Welt, seinen Reflex im Subjekt findet: in Angst, beschädigten Biografien und unterdrückter Aggression. Dem Ordnungsverlust draußen entspricht der im Inneren. Das Buch spielt nicht zufällig am Ende des Zweiten Weltkrieges. Immer wieder registriert die alte Frau die jungen Soldaten, die aus dem Krieg in Europa heimkehren. Ihre Zeit, in der das statusbewusste Manhattaner Großbürgertum noch in lackierten Kutschwagen auf der Fifth Avenue paradierte, ist passè.

Schließlich stehen sich in einem dramatischen Showdown zwei Männer unter dem verwüsteten Weihnachtsbaum gegenüber, die verschiedener nicht sein könnten. Europa steht hier gleichsam gegen Amerika: Hier der reflektierte Ästhet Larry, der mit seiner Mutter lange in Paris lebte und Proust las, da der nassforsche Soldat Georg, der ganz im Hier und Jetzt lebt. Hier der verantwortungslose Dandy, der Kunst und Kultur verehrt, aber nicht für sich selbst sorgen kann, da der aufrechte Spießer, der eine neue Ordnung der Welt mit Feuer und Stahl durchgesetzt hat. Sein geistiger Erbe ist der kleine Henry, der die schneidige Männlichkeit des neuen Vaters bewundert und den leiblichen verachtet. Am liebsten spielt der kleine Junge mit den "Regungen von Grausamkeit", die Hilly einmal bemerkt, mit einem Modell des B-29-Bombers, jenem Flugzeug, von dem die Atombombe auf Hiroshima geworfen wurde.

Dass Hilly das Gefühl der Entfremdung von ihrem Sohn am Ende einer Nacht überwindet, in der er als Mörder verhaftet wird, darf man nicht missverstehen. Dahinter versteckt sich kein Plädoyer Boltons für eine der Lebensformen, die sich in dem tödlichen Finale gegenüber stehen. Und Bolton relativiert auch nicht private Gewalt als das kleinere Übel, als sie Hilly darüber reflektieren lässt, dass Larrys Tat nur "ein winzig kleiner Teil des ungeheuren, des kolossalen und unaussprechlichen Melodramas der heutigen Welt" ist. "Wer konnte das unaussprechliche Versprechen sühnen, das darin bestand, diese teuflischen Waffen, diese Höllentechnik, die sie beherrschten, in die unschuldigen, die jungen und heroischen Hände zu legen?" fragt sie sich, als sie über ihre "Zeit voller Gewalt" nachdenkt. Vor allem, so soll man dieses meisterhafte Beispiel einer Zeitdiagnose im Spiegel der Seele wohl lesen, kann man gerade im Moment der tiefsten Erschütterung das weihnachtliche Gefühl wiederfinden, "in der Liebe des jeweils anderen Sicherheit zu spüren".

Isabel Bolton: Der Weihnachtsbaum. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hannah Harders. Schöffling Co. Frankfurt am Main 2006, 240 S., 18,90 EUR


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