Zeugin

Unsterblich Yasmine Ghatas kunstvoller Roman "Die Nacht der Kalligraphen"

Zwischen Tradition und Moderne. Mit dieser eleganten Formel verschleiern EU-Europäer gern abendländischen Dünkel über den zivilisatorischen Stand der Türkei. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass das Land am Bosporus prinzipiell längst Moderne ist. Vom Laizismus bis zur Justiz - Europa war das Vorbild, nach dem Atatürk 1923 seine Republik aus dem Sand Anatoliens stampfte. Dazu kamen die europäischen Künstler. Der Architekt Bruno Taut, einer der führenden Köpfe des Bauhauses, liegt auf einem Friedhof in Ankara begraben.

Welche geistige Verlusterfahrung dieser radikale Umbau des osmanischen Reichs mit sich brachte, davon erzählt Yasmine Ghata in ihrem Roman Die Nacht der Kalligraphen. Sie zeichnet darin das Leben ihrer Großmutter Rikkat Kunt nach, einer der wenigen Kalligraphinnen der türkischen Geschichte. Als Bindeglied zwischen Tradition und Moderne fungiert das Yali, eines jener hölzernen Sommerhäuser, die sich die osmanischen Notabeln als Sommerresidenz an die Ufer des Bosporus bauen ließen und die später zu Wohnhäusern der türkischen Mittelschicht, zu der Rikkats Eltern gehörten. Als das "Überbleibsel einer glanzvollen Vergangenheit" Ende der achtziger Jahre abgerissen und durch ein sechsstöckiges Appartementhaus ersetzt wird, hat auch in Rikkats Leben die Moderne gesiegt. Kurz darauf stirbt sie.

Ghatas Buch ist inspiriert durch die Kunst. Denn ihre Großmutter hat die 1975 in Frankreich geborene Kunstwissenschaftlerin - wie sie im Epilog anmerkt - quasi im Museum kennengelernt. Bei einem Besuch im Louvre entdeckte sie ein von ihr ornamentiertes Gedicht. Und in dem Roman, in dem sie sich dem Leben dieser Frau nähert, zeichnet sie ein Leben der Hingabe an die Kunst. Die 1903 geborene Rikkat, die gegen den Willen ihrer Familie Kalligraphin wird, spielt zwar das erwartbare Leben jener, die im islamischen Kunstverständnis "Sprachrohr des Allerhöchsten" sind. Verzückt genießt sie den Anblick der nassen Tinte, die man nicht trocken pusten darf. Denn es ist dieser kurze Moment, in dem Allah sich zeigt. Und mehr als einmal bedient sich ihre zierliche Rohrfeder, das kalem, Rikkats nur als Medium, führt ihr die Hand in einem "improvisierten Konzert".

Trotzdem ist Rikkat diese religiös aufgeladene Kunst ein Mittel der Selbstbehauptung und des Widerstands. Mit ihr bricht sie aus dem Gefängnis der arrangierten Ehe mit dem Zahnarzt Ceri aus: "Die Buchstaben zu verrücken, die Zeilen aufzubrechen, das war meine Art gegen diese Heirat zu protestieren". Sie verlässt ihn und kehrt aus Konya nach Istanbul in ihr Yali zurück. Auch in ihrer zweiten, ebenso enttäuschenden Ehe mit einem albanischen Diplomaten und Lebemann Pierre, aus der Ghatas Vater Nour hervorgeht, der später in Paris Arzt wird, wird die Kunst ihre Trutzburg. Zum Schluss experimentiert Rikkat, deren Lebensinhalt das Ornament ist, sogar mit Acryl und Collagen.

An Ghatas Stil bezaubert die Mischung aus Konzentration und Eleganz. Diese Kunstfertigkeit wird aber nie Selbstzweck. In kurzen Kapiteln wie Miniaturen gelingt es ihr, an einem bemerkenswerten Frauenschicksal eine verschwundene Tradition und zugleich das Panorama einer der großen Kulturrevolutionen des 20. Jahrhunderts aufzurufen. Rikkat erinnert sich daran, wie das arabische Alphabet 1928 durch das lateinische abgelöst wird. Ein Trauma par excellence, bei dem sie sich fühlt, als habe man die Muttermilch ersetzt. Die Medrese, Istanbuls islamische Hochschule, verfiel: "Die Spiritualität der ›schönen Schrift‹ war nicht mehr aktuell". Die Kalligraphen müssen bei der Alphabetisierung helfen.

Das Politischste an diesem Buch ist aber die Erzählperspektive. Ganz offenbar hat Ghata genau diese spirituelle Dimension fasziniert, die uns heute befremdet bis ängstigt. Die französische Kunstwissenschaftlerin lässt die türkische Großmutter, die sie nicht gekannt hat, nämlich in der ersten Person Singular erzählen, sogar von ihrem eigenen Tod. So entsteht keine schwerfällige Familienchronik, sondern eine fast schwebende Geschichte mit emotionalem Hallraum. Ghata gibt damit einer Frau, über die die Geschichte hinweggegangen ist, eine Stimme. Sie macht ihre Ahnin aber auch zu der "Zeugin des Sichtbaren und des Unsichtbaren", die Kalligraphen im islamischen Selbstverständnis sind. Denn "Kalligraphen sterben nie". Man kann diese Konstruktion als Verbeugung vor der Mystik sehen. Der aufklärerischen Kraft dieses poetischen Buches tut das keinen Abbruch.

Yasmine Ghata: Die Nacht der Kalligraphen. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Ammann, Zürich 2007, 154 S., 17,90 EUR


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