Ziemlich irre Perspektive

REALER RAUM Kathrin Rögglas literarisches New-York-Protokoll nach dem 11. September

Jetzt also hab ich ein leben. ein wirkliches. In meinem wirklichen leben hab ich ihn schon von weitem laufen gesehen ..." Die ersten Sätze aus Kathrin Rögglas neuem Buch really ground zero klingen, als sei die Autorin aus einem Schlaf erwacht und schüttele den Kopf darüber, dass das Leben, von dem sie bisher nur geträumt hat, tatsächlich existiert. Gleich zweimal hintereinander benutzt die Berliner Schriftstellerin das Wort "wirklich", als wolle sie die ungeheure Erkenntnis, auf die sie da gestoßen ist, bekräftigen. Und vor den Titel schreibt sie ausdrücklich noch ein "really" davor. "Peace, peace!" bestimmte der englische Dichter Shelley im 18. Jahrhundert in seiner Elegie Adonais auf den Tod von John Keats die Realität als Traum der Fiktion, "he is not dead, he doth not sleep, he hath just awakened from the dream of life". Bei Kathrin Röggla ist es umgekehrt. Sie ist aus der Fiktion von der Realität als Traum erwacht.

In Zeiten, wo die Postmoderne die "Agonie des Realen" ausgerufen hatte, ist die Rückkehr der lebendigen Realität nicht eben eine Kleinigkeit. Doch die 1971 in Salzburg geborene Autorin setzt ganz ohne jedes Pathos, betont beiläufig ins Bild, wie sie sie entdeckt. Während viele Menschen schon wenige Tage nach dem 11. September 2001 begannen, die TV-Schirme abzuschalten, weil sie es nicht mehr aushalten konnten, wie sich die Realität in die Endlosschleifen der Bilder zurückzog, sah Röggla sie real kommen: "einen tower haben wir hier eben brennen und einstürzen sehen, ca. einen kilometer entfernt von unserem platz an der ecke houston/wooster street mit ziemlich guter perspektive auf das, was man euphemistisch ›Geschehen‹ nennen könnte ..."

Manchmal trifft einen ein Literaturstipendium auch im richtigen Moment. Als die Attentate New York erschütterten, wohnte Kathrin Röggla in dem Appartement des Deutschen Literaturfonds in der Bleeker Street in Greenwich Village, einen Steinwurf entfernt vom Finance District und dem Word Trade Center. Dort absolvierte sie wie schon viele deutsche AutorInnen vor ihr jenen halbjährigen New York-Aufenthalt, den der Deutsche Literaturfonds jedes Jahr als Stipendium vergibt und eine ganz eigene deutschsprachige New-York-Literatur gezeitigt hat. Der Schock eines Epochenereignisses hat Röggla nun aus diesem Elfenbeinturm auf die Straße, von innen nach außen getrieben. Ein urban diary aus Fotos und Text ist entstanden, das in Auszügen schon kurz nach der Entstehung in der taz zu lesen war. Kein introvertiertes, ausgeklügeltes Flaneursprojekt, sondern eines, das die Verhältnisse vorgeben. Diese literarische Methode hatte Röggla schon in ihren beiden letzten Romanen Abrauschen (1997) und Irres Wetter (2000) kultiviert. In ihnen beschreibt die junge Schriftstellerin ihre Flucht aus der Spießeridylle Österreich nach Berlin und dort wieder die Flucht aus der Berliner Yuppie-Mitte. Diese Bewusstseinsgeographie aus Selbstgesprächen, Dialogfetzen und Reflexionsschüben besitzt alle Vorteile der Unmittelbarkeit. Wie durch den Fleischwolf der Wahrnehmung wird der staccatoartig registrierte Datenstrom der Realität zu einem unabschließbaren Bewusstseinsprotokoll gleich großer Einheiten gedreht - alles ist kleingeschrieben. Röggla ist sich der Widersprüche ihrer quasidokumentarischen Manier bewusst, wenn sie ihre Autorinnen-Protagonistin in Irres Wetter sagen lässt, "fotos seien auch fiktion". Ihre Prosa bietet das aufregende Beispiel eines reflektierten, zeitgenössischen Realismus, der die Realität detailscharf im Blick hat, aber sich nicht damit begnügt, sie abzubilden.

Ein Realismus, der aber nicht zwangsläufig vor verzerrter Wahrnehmung schützt. In einem Essay zum 11.September rief die farbige amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison mühsam beherrscht den "Septembertoten" zu: "Ich möchte euch in meinen Armen halten". 11.September und folgende heißt Rögglas Werk im Untertitel. Lapidarer geht es kaum. Mit diesem Ton, immer wieder durchzogen von kulturtheoretischen Einsprengseln, mit dem sie die aus den Fugen geratene Realität beschreibt, schützt sich Röggla vor emotionaler Selbstaufgabe. Das ist vielleicht nicht die schlechteste Haltung gegenüber einem Ereignis, das "weitaus zu groß zu sein scheint, um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur." Es ist auch der Vorteil ihrer Beobachterposition von außen, dass sie nicht patriotisch in die Knie geht. Selbst am Pazifistentreffpunkt am Union Square, bemerkt sie auf ihren Stadtgängen, hängen plötzlich zwischen den Kerzen Fahnen mit dem Aufdruck: "We are united". Und doch liegt - wie schon in ihrem Affekt gegen die "think-positive-hardliner" und "globalisierungsgewinner" in Irres Wetter - ein Filter von Vorurteil über ihrer Beschreibung der amerikanischen Paranoia. Sie beobachtet, wie die kollektive Hysterie nach dem 11. September in "tausend kleine stimmungen" zerfällt. Manche davon, wie den jungen Vietnamveteranen, der auf der Seventh Avenue plötzlich mit panischen Gesten Geisterverkehr zu regeln beginnt, fängt sie ein. Während der amerikanische Schriftsteller Louis Begley Anzeichen "dauerhafter Brüderlichkeit" ausgemacht haben will, bleibt ihr Amerika, das Land "ohne Plural" insgesamt aber ein Großklischee aus Wild-West-Politikern und Geheimhaltungstechnikern im TV. Mitunter sieht Pynchon-Fan Röggla nur, was sie sehen will und schon vorher gelesen hat.

Aus diesem Verschwörungstraum holen manchmal reale Kopfschmerzen Röggla in die aufgebrochene Realität zurück. Doch der unversehens aufgetürmte "haufen an authentizität" verflüchtigt sich unter der Hand in ein semiotisches System: Einerseits Zementstaub, andererseits ein Film über schmelzende Stahlträger. Einerseits reale Todeszone, die "nicht abbildbar" ist. Andererseits ihre Diffusion in tausende private Erinnerungsphotos, die die pharmacies überschwemmen - "überall Zeichen". really ground zero meint also mehr als eine Ortsbezeichnung. Es ist die Metapher für den ground zero der ästhetischen Kategorien, für die "inversion der maßstäbe". Diese verrückte Perspektive wird man in New York nicht zurückdrehen, eine unbefangene nicht wiedergewinnen können, wenn dort der mythische Ort ground zero neu bebaut werden wird.

Rögglas Buch ist das nicht immer gleich produktive Protokoll eines Irrlaufs an der Nahtstelle zwischen Fiktion und Realität, bei der es keinen "fotoausgang aus der geschichte" gibt. Ob die Fiktion überwiegt oder die Realität, entscheidet Röggla nicht. Aber als sie am Washington Square auf einen Querflötisten auf einer Parkbank trifft, kann man ahnen, dass die Realität zumindest wieder einen höheren Stellenwert bekommen hat. Wirkte der urbane Raum, in den sie sich in den Tagen nach dem Anschlag ziellos flüchtete, oft "irreal", findet sie ihn hier plötzlich wieder. Sie kann sich der Musik des Flötisten nähern. Oder sich wieder von ihr entfernen. In diesem Zwischenraum findet sie den "Raum als solchen" wieder. Diese Entdeckung verdankt sie der Kunst.

Kathrin Röggla:really ground zero. 11. September und folgendes. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2002, 112 S., 7, 00 €

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