Wir unterstützen Gerhard Schröder. Fünf Minuten vor Schließung der Wahllokale raffte der Kanzler noch einmal alle intellektuellen Kräfte zusammen. In einer ganzseitigen Anzeige in der Süddeutschen Zeitung riefen 46 Künstler und Intellektuelle Anfang September zur Wahl des amtierenden Bundeskanzlers auf. Lange hatten sie Rotgrün à la Schröder, Schily, Clement die kalte Schulter gezeigt. Doch plötzlich waren die Empörung über deren Sozialpolitik vergessen, der große Hamburger Bahnhof für Friedrich Christian Flick und der rote Teppich für den "lupenreinen Demokraten" Wladimir Putin. Nun galt es, den großen Förderer der Kultur zu stützen.
Dass Rotgrün mehr für die Kultur getan hat als die Regierungen zuvor ist unbestritten. Wie tiefe Spuren das neue Zusammenspiel von Geist und Macht, das da beschworen wurde, hinterlassen hatte konnte man am Wahlabend beobachten. Schröders TV-Auftritt wirkte wie das Muster eines kritischen Diskurses. Mit Urgewalt brach sich in diesem Moment die Devise Bahn, die sein Duzfreund und Geistesverwandter, Malerfürst Jörg Immendorf 1972 auf eines seiner frühen Agitprop-Gemälde namens Ich wollte Künstler werden gepinselt hatte: "Meine Leitlinie heißt Egoismus". Tags drauf befand Günter Grass in einem denkwürdigen Interview sogar: "Auf Schröder kann niemand verzichten." Da scheinen sich zwei Urviecher gefunden zu haben ...
Der spektakuläre Last-Minute-Einsatz der SPD-geneigten Kunst war durchaus bemerkenswert. Auch, weil es gelungen war, ein paar Jüngere zu gewinnen. Selbst Guido Westerwelles Lieblingsmaler Norbert Bisky zeichnete den Schröder-Aufruf. Wenn man diese Rochade nun unter die allenthalben zu beobachtende "Repolitisierung der Künste" rechnet, wie es Ralf Fücks von der Heinrich-Böll-Stiftung vergangenes Wochenende bei einem Kongress des Think-Tanks zu Kunst-Macht-Politik tat, tut man dem Marketing-Coup nachträglich wohl doch zu viel Ehre an.
Wenn sich ein von Berufs wegen zu kühner Imagination verpflichteter Literaturnobelpreisträger niemand Besseren an der Spitze der Regierung vorstellen kann als den Bewunderer des Neorealisten Helmut Schmidt, darf man das wohl eher als Schwundstufe der Repolitisierung bezeichnen. Und wer vergangenen Freitag sah, wie sich Jörg Immendorff bei der Eröffnung seiner großen Retrospektive in der Berliner Nationalgalerie in Huld und Glanz des Noch-Kanzlers sonnte, ahnt die eigentliche Triebkraft hinter dem Anzeigen-Coup: Die Angst eines Milieus, das um Einfluss und Verbindungen fürchtet.
Man muss das verstehen: Niemand beherrschte es in den letzten sieben Jahren besser als die rotgrüne Intelligenz, sich dieser Regierung als Sparringspartner und Kontrastfolie zu bedienen. Man grollte medienwirksam, wenn sie vom linken Weg abkam, brauchte die Kulisse der Macht aber auch, um sich als Linienrichter in Szene zu setzen. Doch was hat mehr kritische Bewusstseinsbildung bewirkt? Theaterdonner und Plauschangriff diverser Großintellektueller im Spreebogen oder das leuchtende "Zweifel"-Zeichen, das Lars Ramberg auf dem Palast der Republik installiert hatte, um die royalistische Restauration im Herzen Berlins ins Zwielicht des Nachdenkens zu setzen? Ramberg oder Inke Renate und Christian Robert, die mit der spektakulären Aktion Göring-Collection am Tag der Flick-Eröffnung an eine ganz andere Kunstsammlung erinnerten, sind nur zwei Beispiele einer neuen, kritischen Künstlergeneration, die sich nicht als bequeme Kulisse der Macht sehen, sondern sie wie eine klandestine Guerilla unterwandern. Wahrscheinlich sah man sie deshalb so selten im Kanzleramt.
Die Große Koalition, die derzeit in Berlin geschmiedet wird, stürzt die Protagonisten einer auslaufenden Ära nun nicht in Abseits und Verderben. Vielleicht gibt es etwas weniger Avantgarde. Aber eine konservative Revolution wird auch ein CDU-Kulturstaatsminister nicht einläuten. Und wenn das Einvernehmen zwischen Macht und Geist durch eine spröde Frau im Kanzleramt gestört wird, bei der die Herren Immendorf, Lüpertz und Rutschky etwas mehr fremdeln als bei ihrem Kumpel Gerd, schadet das nicht.
Die Große Koalition von 1966 bis 1969 war die beste Zeit für die Intellektuellen. Sie trommelten gegen die Notstandsgesetze und halfen, die Bonner Pläne für ein Mehrheitswahlrecht zu kippen. Diese herrlichen Zeiten des Widerspruchs gegen die ganz große Einigkeit könnten nun wieder anbrechen. Und wenn die Künstler nicht mehr ganz so häufig in die Skylobby eingeladen werden, können sie sich auf das besinnen, was die Kunst mehr ausmacht, als das Gelittensein bei Hofe: Eine ganz andere Sicht der Dinge.
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