Zwiebel

Berliner Abende Kolumne

Auf dem Glastisch liegt die Zwiebel, leer gelesen. Hinterließ nur Schales, gar nichts, das mich freut. Beim Frühstück wende ich Hildegard Knefs Song Der Tag holt Luft versuchsweise auf Günter Grassens neues Buch an, das von der langen Lesenacht noch auf dem Frühstückstisch liegt, ersetze einfach Zeitung durch Zwiebel. Wie das Buch da so über dem Eiermann-Gestell schwebt, leuchtende Rötelzeichnung auf beigem Umschlag, sieht es aus wie ein Schöner-Wohnen-Accessoire. Geboren aus der Volksküche des Lebens. Passt aber auch in keimfreie Nobelküchen. Rezepte sind ja viele drin. Und als Buch stinkt die Zwiebel nicht. Doch so traurig und fatalistisch wie in dem Knef-Song ist mir gar nicht zumute. Dafür hat mir der Wälzer dann doch zu gut gefallen. Ein Wochenende habe ich mich von dem Corpus Delicti faszinieren, Freunde, Kino, Möbel Olfe sausen lassen und mich immer tiefer in den biografischen Urschlamm unseres moralischen Übervaters gewühlt. Und bin jetzt schon total gespannt, wie sich der Alte heute Abend schlägt bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Schlamassel.

Dominik ist Grass einigermaßen egal. "Was war jetzt mit dem noch mal"? fragt er mich zerstreut beim Kaffee. In Gedanken ist der Sozialarbeiter schon bei seinen Schizos in Neukölln. Manchmal frage ich mich ja doch, ob ich im Wasserglas des Literaturbetriebs jede Mücke dort für einen Elefanten halte oder die anderen im Milchglas des Alltags den Krimi nicht erkennen, der da draußen real abläuft. Was bleibt eigentlich da wirklich im kollektiven Gedächtnis haften? Der politische oder der literarische Grass? Oder - horribile dictu - keiner von beiden? Ein befreundeter Layouter, bei dem ich mittags auf einen Sprung vorbeischaue, gesteht mir, was er mir jahrzehntelang verschwieg - dass er von Grass nur Katz und Maus gelesen hat: "Weil es so schön dünn ist". Jetzt bin ich natürlich erst mal maßlos enttäuscht von Jürgen. Bei Linda kann ich noch verstehen, dass sie ganz andere Sorgen hat. Wenn sie den leckeren Rosmarin-Schinken in ihrem Delikatessen-Laden in Mitte so häufig verkaufen würde, wie Grass seinen erinnerungsfetten 500-Seiten-Schinken, wäre sie saniert. "Na, da hat er sich ja wohl schwer verkalkuliert bei den Reaktionen" macht die Kauffrau die Affäre kaufmännisch-kühl zum Rechenproblem, als sie mir am frühen Abend einen Teller Pasta serviert. Dann schlendere ich durch dichtes Touristengewühl zum Berliner Ensemble.

Zementblock Langeweile hockt auf Straßen/und auf Zehenspitzen hüpft betulich unsere Pflicht singt die Knef. Vielleicht ist Grass deshalb so beliebt, weil er alles andere als Pflichtübungen absolviert. Die Bühne des BE betritt am Abend vor 750 geladenen Gästen die Mutter Courage des Engagements: "Ich werde auch in Zukunft meinen Mund aufmachen" herrscht er Wolfgang Herles vom ZDF an, der neben dem Vulkan Grass auf Buchhalterformat schrumpft, so durchsichtig wie Seidenpapier. Der ungebrochene Elan verkehrt sich mitunter in Starrsinn: "Mit welchem Recht will man verlangen, dass ich eine sehr kurze Phase in meinem Leben der Öffentlichkeit vorstelle?" Tja, mit welchem? Paragraphen waren, glaube ich, nicht gemeint. Der Magnetwirkung des schnauzbärtigen Bekenners tut das keinen Abbruch. "Ich bin total beeindruckt" gesteht mir nicht einer aus der zahlreich erschienenen Grass-Fan-Truppe sondern ausgerechnet Jörn, unser Praktikant, für den der Moralapostel vermutlich eine so ferne Figur ist wie für Max-Goldt-Fans Moses. Er ist ganz fasziniert von der "Bühnenpräsenz" einer Naturgewalt und staunt: "Der kann wenigstens toll lesen". Im ersten Stock vergnügt sich die Prominenz am Büffet mit gedünsteten Zwiebeln, im Foyer gibt der Koch des Erinnerungsgemüses unermüdlich Autogramme. Zwar schleicht er schon ziemlich gebückt zum Stuhl, macht Dehnübungen vor der langen Sitzung und beginnt, seine Paraphe mit den charakteristischen Unterlängen in die hingehaltenen Bücher zu zeichnen, viele davon abgegriffene Erstausgaben. Aber wie ein altes Eisen sieht er nun wirklich noch nicht aus. Diese Zwiebel hat noch viel Saft.

Der Tag holt Luft und knackt mit den Gelenken. Zwischen Hals und einem Brustbein tickt die Nacht. Als ich nach Hause komme, ist am Südostrand von Kreuzberg schon alles ganz still. Nur ein Luftzug zieht durch die Bäume vor dem Haus. Ich stehe auf dem Balkon, atme tief durch und denke an Grassens Satz von der Last, die bleibt. Vorm Horizont klebt ein weiß leuchtender Halbmond über der Silhouette des größten Bürogebäudes der Welt. Albert Speers Flughafen Tempelhof ist auch so eine Last, die bleibt. Der einzige Flughafen der Welt, der nicht geschlossen werden kann, auch wenn man den Flugverkehr noch so oft einstellt. Er steht unter Denkmalschutz.


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