Bereits zwei Tage vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine legte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) das Genehmigungsverfahren der Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis. Es folgten Sanktionen für fossile Energien aus Russland, ein Anschlag auf die Gasleitungen in der Ostsee zementierte die Abkehr von russischem Gas.
Seither wittert die Atomkraftlobby Morgenluft. Im November stimmte nach dem Bundestag auch der Bundesrat zu, die drei letzten deutschen Atomkraftwerke bis April 2023 laufen zu lassen. Dabei sind in keiner Energiesparte Deutschland und die EU so stark auf Ressourcen anderer Staaten angewiesen, 99,5 Prozent des Natururans werden importiert. 20 Prozent stammten 2020, wie eine Studie des österreichischen Umweltbundesamts aus dem Mai 2022 belegt, aus Russland und weitere
nd weitere 19 Prozent aus Kasachstan, dem größten Uranproduzenten weltweit. Letzteres ist insofern relevant, als dass der russische Atomkonzern Rosatom neben den Minen im eigenen Land auch im Nachbarland knapp ein Viertel der Uranförderung kontrolliert.Ausweitung des GeschäftsDoch es geht nicht nur um die primären Rohstoffe: „Wir sehen, dass vor allem in der Brennstofffertigung große Abhängigkeiten bestehen. Diese betreffen vor allem die Reaktoren russischer beziehungsweise sowjetischer Bauart, die WWER-Reaktoren, wie sie etwa in Finnland, der Slowakei, Tschechien und Ungarn stehen“, erläutert Klaus Gufler, Nuklearenergieexperte am Umweltbundesamt Wien und Mitverfasser der Studie. „Von diesen sind in der EU aktuell 19 in Betrieb. Sie sind stark von der Rosatom-Tochter TVEL abhängig, da sich ihre Bauart von der westlicher AKWs unterscheidet.“Die Tochter des französischen Atomkonzerns Framatome, Advanced Nuclear Fuels (ANF), hegt schon seit Längerem Pläne, ihre Brennelementeproduktion im emsländischen Lingen auszuweiten und auch Brennelemente für osteuropäische AKWs herzustellen, denn die Anlage ist bei Weitem nicht ausgelastet. Eine Anfrage der Fraktion der Linken im Bundestag habe ergeben, dass deren Produktivität 2020 nur zwischen 30 und 45 Prozent gelegen habe, berichtet Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen. „Wenn die weitermachen wollen in Lingen, brauchen sie neue Kunden. Deshalb sind sie auch mit Rosatom im Gespräch. Das ist der einzige große Konzern, der ihnen neue Kunden bringen kann.“Also plante ANF ein Joint Venture mit der Rosatom-Tochter TVEL. Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine war das der Öffentlichkeit allerdings schwer zu vermitteln. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erklärte auf die Frage eines Journalisten bereits am ersten Kriegstag, die russische Firma habe ihren Antrag, in das Brennelementegeschäft in Lingen einzusteigen, zurückgezogen. Einem Bericht in ZEIT online zufolge sagten ANF und TVEL den Deal tatsächlich erst Monate später ab. Damit kamen sie dem Wirtschaftsministerium zuvor, das zu diesem Zeitpunkt gerade die Prüfung der sicherheitspolitischen Relevanz des Unterfangens beendet hatte. In letzter Instanz hätte es eine Zusammenarbeit unterbinden können.Doch selbst damit war das Unternehmen noch nicht beerdigt. Auf einem Online-Fachgespräch zur Uranversorgung europäischer Atomkraftwerke, an dem neben Klaus Gufler vom österreichischen Bundesumweltamt und anderen Expert*innen auch Vertreter*innen des Bundesumweltministeriums (BMUV), des Wirtschaftsressorts und des Bundestags teilnahmen, fiel die Information, ANF und TVEL hätten in Frankreich ein Joint Venture geschlossen und registriert. Eine Sprecherin von ANF wollte gegenüber dem Freitag dazu keine Stellung nehmen. Ihre Firma halte sich an die beschlossenen Sanktionen und unternehme alles, um auch die europäischen Reaktoren sowjetischen oder russischen Typs zu versorgen und damit deren Abhängigkeit von Russland zu mindern. Alles andere sei Betriebsgeheimnis. Auch das Wirtschaftsministerium wollte sich nicht äußern, während es seitens des BMUV heißt, ein solches Joint Venture sei noch in Planung.Klaus Gufler zufolge hat ANF zumindest Absichtserklärungen zur Herstellung von Brennelementen für die WWER-Reaktoren unterschrieben. Der Bauantrag für die Betriebserweiterung in Lingen liegt seit März 2022 dem niedersächsischen Umweltministerium vor. Dieses befürwortet eine Schließung der Anlage im Zuge des Atomausstiegs und drängt beim Bund darauf, die Uranimporte aus Russland zu stoppen. Doch handeln könne nur dieser.Völlig falscher WegAuch Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) möchte die Brennelementefabrik und die Urananreicherungsanlage in Gronau schließen. „Es ist eine notwendige Konsequenz aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, Abhängigkeiten von Russland zu reduzieren. Dass Framatome die Zusammenarbeit mit dem russischen Staatskonzern Rosatom intensivieren will, ist daher der völlig falsche Weg“, sagt sie. Schon in den beiden vergangenen Legislaturperioden hat es konkrete Pläne dazu gegeben. „So hat das Bundesumweltministerium 2017 zwei Rechtsgutachten beauftragt, die bestätigen, dass eine rechtssichere Schließung der Anlagen problemlos möglich wäre“, erinnert die Atomexpertin des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), Juliane Dickel. Die Grünen hatten schon 2018, vor ihrer Regierungsbeteiligung, einen Gesetzesentwurf erarbeitet. Vor zwei Jahren scheiterte er an einer fehlenden Mehrheit und bis heute an der FDP.Die deutsche Sektion der internationalen Friedensorganisation IPPNW hält einen kompletten Ausstieg aus der Atomkraft für dringend geboten, ebenso wie das Verbot von Atomwaffen: Auch unabhängig von der Produktion von Brennelementen bestünden bereits seit 2017 umfassende Kooperationsvereinbarungen zwischen Rosatom und EDF / Framatome und damit zwischen den beiden Atommächten Frankreich und Russland, versichert die Vorsitzende, Angelika Claußen. „In der Zusammenarbeit von Rosatom und Framatome spielen geopolitische und damit auch militärische Hintergründe eine besonders wichtige Rolle. Die Atommächte Frankreich und Russland brauchen die gesamte Palette der nuklearen Produkte, um Atomwaffen auf dem neuesten technologischen Stand produzieren zu können“, erklärt sie. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen Atomtechnologie und militärischer Nutzung. Das Risiko für Atomkatastrophen – bis hin zu einem Atomkrieg – sei groß und derlei wirtschaftliche Abhängigkeiten gefährlich.Greenpeace Frankreich bestätigt die enge Verflechtung des französischen Atomsektors mit Russland: „Die gesamte Industrie beruht auf dieser Zusammenarbeit: das Uran, seine Anreicherung, die Atommülltransporte nach Kasachstan und Usbekistan, die durch russisches Terrain führen“, erklärt der Campaigner der Sektion Klima und Energie, Pierre Terras. So wehrt sich Frankreich neben Ungarn am vehementesten gegen weiterreichendere Sanktionen gegen Russland, die die Atomindustrie miteinbeziehen. Dennoch scheinen derartige Bestrebungen innerhalb der EU Gestalt anzunehmen, wie das Handelsblatt kürzlich berichtete.Ein Ende der Atomenergie ist dennoch lange noch nicht in Sicht. Nach Einschätzung von Gufler werden sich auch andere Wege finden, den Uranbedarf europäischer Brennelementefabriken wie der in Lingen zu decken. So sei es im Gespräch, temporär stillgelegte Minen in Australien, Kanada und Namibia zu reaktivieren.Für die Brennelementeherstellung sitzt mit dem US-amerikanischen AKW- und Brennelementehersteller Westinghouse neben der Framatome-Tochter noch ein weiteres westliches Unternehmen in den Startlöchern. „Westinghouse hat zwischen 2000 und 2002 solche Brennelemente für die WWER-1.000-Reaktoren des tschechischen AKWs Temelin I und II geliefert und vor Kurzem auch für Atomkraftwerke in der Ukraine“, berichtet Gufler. Es bestünden bereits Verträge des Konzerns mit Temelin, die dortigen Reaktoren ab 2024 zu versorgen, erste Erfahrungen und zukünftige Vorhaben gibt es auch mit den von der Leistung her etwas kleineren Reaktoren WWER-440 in Finnland und der Ukraine. Nach Einschätzung des Co-Vorsitzenden und Mitbegründers der russischen Umweltorganisation Ecodefense, Wladimir Sliwjak, sind Framatome und Westinghouse aber gegenwärtig noch nicht in der Lage, alle europäischen WWER-Reaktoren mit Brennelementen zu versorgen, sollten diese nicht mehr aus Russland geliefert werden. Die Praxis der Kraftwerke, sich einen Brennelementevorrat für ein bis drei Jahre anzulegen, gewährleiste allerdings eine gewisse vorläufige Versorungssicherheit.