Eines der Ziele des UN-Umweltgipfels 2002 in Johannesburg lautete, das Artensterben bis zum Jahr 2010 zu stoppen oder spürbar zu bremsen. Heute wissen wir: Es wird nicht erreicht werden, dieses Ziel. Das sechste große Artensterben in der Erdgeschichte setzt sich fort. Und im Unterschied zu den vorangegangenen geht dieser Artenschwund auf das Konto des Menschen, hervorgerufen durch Klimawandel, Zerstörung von Lebensräumen, exzessive Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Invasion fremder Arten, die einheimische Spezies verdrängen.
Zwar sterben auch evolutionsbedingt permanent Arten aus, doch der Vorgang ist nach Angaben der Weltnaturschutzunion (IUCN) derzeit um das 100- bis 1000-fache beschleunigt. Im Internationalen Jahr der Biodiversität 2010 will die Bundesregierung dem Artenschutz daher dieselbe Wichtigkeit einräumen wie dem Klimaschutz. Doch anders als beim Klimawandel sind den Menschen die Folgen des Artenverlustes noch unklar. Was sollte schlimm daran sein, wenn es einige Insekten- oder Amphibienarten weniger gibt?
Über die Komplexität der Ökosysteme ist noch viel zu wenig bekannt, aber sie darf nicht unterschätzt werden. Denn das Verschwinden einer Art beeinflusst seinerseits die Population anderer Lebewesen. „Je mehr Arten sterben, desto instabiler werden die Ökosysteme“, warnt Volker Homes, Artenschutzexperte der Umweltschutzorganisation WWF Deutschland. Die Vereinten Nationen haben die Bedeutung der Artenvielfalt längst erkannt. In dem Maß, in dem sie schrumpfe, gehe die Grundlage einer nachhaltig sicheren Welternährung verloren, mahnte der damalige Generalsekretär Kofi Annan bereits 2004. „Die Biodiversität in Nahrungsproduktion und Landwirtschaft gehört zu den wichtigsten Ressourcen der Erde“, schreibt auch die Welternährungsorganisation FAO.
Obwohl weltweit 30.000 essbare Pflanzenarten bekannt sind, liefern nur drei die Hälfte der globalen Nahrungsenergie: Weizen, Mais und Reis. Angebaut werden ertragreiche Sorten, die wenig widerstandsfähig und kaum an Klimaschwankungen angepasst sind. Auch die Artenvielfalt der Ozeane und damit die Ernährungssicherheit vieler Völker, die auf Fisch angewiesen sind, ist durch Verschmutzung und industrielle Fischerei bedroht: Nach Angaben des WWF sind 70 Prozent der Weltmeere überfischt. Fast 1.300 Fischarten standen 2008 auf der Roten Liste, als kurz vorm Kollaps gelten die Populationen des Roten Tunfischs und diverse Haiarten. Hinzu kommt nach Informationen des Magazins Nature ein eklatanter Rückgang des Phytoplanktons, der Grundlage allen ozeanischen Lebens, seit den fünfziger Jahren. Schuld daran sei der Klimawandel, der eine bessere Durchmischung der Wasserschichten und damit der Nährstoffe verhindere.
Unbekannte Tiefsee
Der Einsatz von Grundschleppnetzfischerei am Meeresboden schließlich pflügt unwiederbringlich eine Vielzahl von Arten unter, die wir noch gar nicht kennen. Wissenschaftler beeilen sich deshalb, so viele unbekannte Spezies wie möglich kennenzulernen. So haben Forscher aus 80 Ländern den bislang größten Marinen Zensus durchgeführt, dessen Ergebnisse sie im Oktober vorstellen werden. Etwa 230.000 Arten werden darin erfasst sein. Man könne nur schützen, was man kennt und versteht, sagt Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut. Ein Fokus lag auf der Tiefsee, die trotz immerwährender Dunkelheit und immenser Druckverhältnisse höchst vielfältiges Leben birgt.
Nicht nur Meer, sondern auch Land will das Projekt des US-Forschers Edward O. Wilson durch Wissen schützen: Die Enzyklopädie des Lebens ist ein gigantisches Artenregister, das der emeritierte Professor der Havard-Universität im Internet initiiert hat. 1,8 Millionen Webseiten sollen die Artenvielfalt online verfügbar machen. Mit Hilfe von Zensus und Register hoffen Forscher unter anderem, Mittel gegen bis heute unheilbare Krankheiten zu finden. Außerdem sind in den Ländern des Südens laut Weltgesundheitsorganisation WHO rund 80 Prozent der Menschen auf Naturheilmittel angewiesen. Viele dieser traditionellen Mittel haben inzwischen auch westliche Firmen entdeckt und beuten die Bestände für ihre Zwecke aus. Wie der Hoodia-Kaktus, der das Hungergefühl unterdrückt und deshalb im Westen als Schlankheitsmittel eingesetzt wird, sind deshalb inzwischen viele Arten vom Aussterben bedroht.
Im Oktober findet im japanischen Aichi-Nagoya die 10. Vertragsstaatenkonferenz der Biodiversitäts-Konvention (CBD) statt. Durchschlagende Erfolge brachten solche Treffen bislang nicht. Der Guardian führt deshalb gerade eine Leserbefragung durch: Die Zeitung sammelt die einhundert besten Ideen gegen das Artensterben. Im Oktober will man sie den Regierungen der G20 überreichen.
Ingrid Wenzl ist Autorin für Umweltthemen. Als Politologin interessiert sie sich auch für deren politische Umsetzung
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