Welche Möglichkeiten gibt es noch, angesichts der fortschreitenden Erderwärmung das Ruder herumzureißen und die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen? Ein Teil der Klimabewegung möchte genau das nun auf parlamentarischem Wege versuchen: Trotz erschwerter Pandemiebedingungen gründen sich in immer mehr Bundesländern sogenannte Klimalisten. Am kommenden Sonntag treten sie in sieben Städten und Landkreisen bei Kommunalwahlen in Hessen und bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg an (der Freitag 7/2021).
Den Pariser Klimaschutzzielen, inklusive der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad, hat zwar auch die deutsche Bundesregierung zugestimmt, doch scheint es aussichtslos, mit den bis jetzt gewählten Schritten das Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Erfolge wurden bislang hauptsächlich im Energiesektor erzielt, während sich insbesondere im Gebäude- und Verkehrssektor kaum etwas bewegt.
Im hessischen Marburg sind die Ausgangsbedingungen für die Klimaliste günstig: 2019 schlossen sich die aktiven Klimagruppen der Stadt zum Klimabündnis zusammen. Im selben Jahr wurde in Marburg der Klimanotstand ausgerufen und infolge mit öffentlicher Beteiligung ein Klimaaktionsplan erarbeitet. Isabella Aberle, Listenplatz 2 der Klimaliste in Marburg, bewertet diesen durchaus als positiv, vermisst darin jedoch eine nähere Ausgestaltung der Ziele und Zeitvorgaben. „Und was auf jeden Fall fehlt, ist das, was wehtut, wo man wahrscheinlich auf Widerstand aus der Gesellschaft stößt“, ergänzt Maik Schöniger, Erstkandidat der Klimaliste für die Stadt Marburg. „Da ist Verkehr ein Riesending! Wirklich gut ist der Bereich Wärme und Sanierung. Das ist in Marburg mit 53 Prozent der Emissionen auch der größte Sektor. Aber der Verkehr macht auch rund 20 Prozent aus.“
Die Klimalisten Marburg/Marburg-Biedenkopf befürworten ein 365-Euro-Jahresticket für alle, wie es schon für Senior*innen und Azubis existiert. Auch setzen sie sich für ein Tempolimit von 20 km/h in Wohngebieten und 60 km/h auf der Stadtautobahn ein und möchten bis 2040 eine autofreie Innenstadt schaffen – was angesichts des proklamierten Zeitdrucks, CO₂-Emissionen zu senken, etwas zögerlich wirkt.
Mehr Mut zeigen sie in ihrem Plädoyer für mehr Windenergie. „Ganz wichtig dabei ist, die Leute vor Ort miteinzubeziehen“, sagt Aberle. „Meine Idealvorstellung ist, dass die Dörfer dadurch autarker werden, dass der Strom auch vor Ort genutzt wird oder etwas Geld damit verdient wird, mit dem dann zum Beispiel das geschlossene Schwimmbad wieder in Betrieb genommen werden kann.“ Gleichzeitig plädiert die 24-jährige Biologin für mehr Aufklärung bezüglich der gängigen Vorurteile gegen Windkraft.
Gegen grünen Kapitalismus
Die Klimalisten sind auch die Quittung für die Realpolitik der Grünen: Seit 2014 regiert in Hessen eine Koalition aus CDU und den Grünen. Mit Tarek Al-Wazir war es ausgerechnet ein grüner Verkehrsminister, der gegen den gesellschaftlichen Protest den Bau der A49 durch den Dannenröder Wald fortsetzen ließ, mit dem Argument, die Entscheidung dafür sei zwar inhaltlich falsch, aber rechtlich bindend.
Die Grünen stehen bei vielen Klimaaktivisten auch im Verdacht, einem „grünen Kapitalismus“ das Wort zu reden. Davon setzen sich die Klimalisten vorsichtig ab. Jessica Martin, die für Mannheim I antritt und Teil der AG Öffentlichkeitsarbeit der Klimalisten Deutschland ist, fordert einen Paradigmenwechsel: „Nicht immer größeres Wachstum, sondern Entschleunigung, Zeitwohlstand und Gemeinschaftlichkeit sichern uns ein gutes Leben für alle“, sagt sie. Reformistische Ansätze gibt es auch: „Wir möchten, dass alle Unternehmen Gemeinwohlökonomie-bilanziert werden und dass die Gewerbesteuer, die entrichtet werden muss, an solche Bilanzen geknüpft wird“, sagt Schöniger.
Nur in Baden-Württemberg tritt die Klimaliste als Partei an. Anderswo sind die Klimalisten parteiunabhängig und vermeiden damit auch eine Einordnung in gängige Schemata von links, Mitte oder rechts. Grundkonsens ist die Ablehnung von Diskriminierung, Rassismus und Gewalt. Dazu kommt soziales Engagement, indem die Klimaliste etwa in Marburg im Zuge der geplanten Sanierungen auf stabile Mietpreise pocht. Auffällig ist der niedrige Altersdurchschnitt auf den Klimalisten. Mit 20 Jahren ist die Psychologiestudentin Mariele Diehl die jüngste Oberbürgermeister*in-Kandidatin in Marburg. Viele haben sich zuvor auf der Straße, in der Kohlegrube oder im Wald für eine Klimawende engagiert oder im Studium oder Beruf Expertise im Bereich Klimaschutz gesammelt.
So auch der Nebenerwerbslandwirt Niels Noack, der für den Landkreis Marburg-Biedenkopf für die Klimaliste auf Platz 2 kandidiert. Er betreibt auf seinem Acker neben Gemüse- und Kartoffelanbau Humusaufbau, um damit Kohlenstoff im Boden zu binden, und ist schon seit Jahren in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv. „Angesichts der Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten, dass Parteien die Forderungen sozialer Bewegungen in ihrer Politik nicht ausreichend berücksichtigt haben, und da die Zeit für einen Wandel der Gesellschaft drängt, halte ich es zumindest für einen Versuch wert, zu probieren, selbst in die Parlamente reinzukommen und die Dynamik von Forderungen und Aushandlungsprozessen dort mit dem Druck von der Straße zu verbinden“, sagt er.
Keine FFF-Partei
In der Klimabewegung wird die Gründung der Klimalisten unterschiedlich aufgenommen. „Zunächst war ich enttäuscht, weil es in Hessen, Marburg und Landkreis ja bereits eine Partei gibt, die sich sehr für den Dannenröder Forst und Klimaschutz eingesetzt hat, und das ist die Linke“, sagt der Marburger Hochschullehrer für Friedens- und Konfliktforschung und Fahrradaktivist, Johannes Maria Becker. „Und ich fand, dass sie bei diesen Wahlen alle Stimmen verdient hätte. Aber als ich gelesen habe, wie sich das Programm zusammenstellt, und ich einige meiner ehemaligen Student*innen auf der Liste gefunden und mit ihnen gesprochen hatte, ist an die Seite meiner Enttäuschung eine gewisse Hochachtung getreten für das, was da entwickelt worden ist.“
Der Heidelberger Physikstudentin Line Niedeggen ist es wichtig, im Namen von Fridays for Future Deutschland zu betonen, „dass die Klimalisten keine FFF-Partei sind“. Ihre Aufstellung speziell bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sieht sie eher kritisch. „Eine Kleinpartei zu wählen, ist immer der letzte Ausweg, wenn gar keine Chance für progressive Mehrheiten da ist“, sagt sie. Möglicherweise könnten so wichtige Stimmen verloren gehen. Dennoch gibt es auch zwischen FFF-Aktivist*innen und Klimalisten-kandidat*innen Überschneidungen.
Überschneidungen, aber keine einheitliche Position, nicht mal im Dannenröder Wald: „Genauso bunt wie die Klimabewegung ist auch die Protestbewegung hier vor Ort“, sagt ein Aktivist, der sich Naga nennt. Manche sähen in der Klimaliste eine Chance, andere betrachteten sie eher skeptisch: „Gerade die Menschen, die schon etwas älter sind, haben mitverfolgt, dass die Grünen, sobald sie am Drücker sitzen, ihre Grundwerte verraten, indem sie Kriege führen oder Wälder roden lassen. So gibt es hier auch Stimmen, die befürchten, dass die Klimaliste, wenn sie in die Nähe der Macht kommt, demselben Effekt unterliegen wird.“
Über die Zukunft der Klimaliste auf Bundesebene wird gerade intern diskutiert. Jessica Martin, Kandidatin in Mannheim I, sagt: „Es ist noch nichts entschieden, aber der Wunsch ist stark nach Vernetzung und einer Bundespartei.“ Über erste positive Erfahrungen berichtet Sebastian Hornschmidt, der zusammen mit dem Physiker Martin Hundhausen 2020 aus dem Stand in das Stadtparlament von Erlangen in Franken gewählt worden war: „Mit der Wahl der Klimaliste hat eine deutliche Diskursverschiebung stattgefunden, das Thema ist allgegenwärtig.“
Wahljahr 2021
Auftakt Ihre Mandatsträger haben sich an der Corona-Not der Menschen und des Staates bereichert, 250.000 Euro Provision soll zum Beispiel der Mannheimer Bundestagsabgeordnete Nikolas Löbel für die Vermittlung von Schutzmasken kassiert haben – winkt der CDU nun als Quittung ein Debakel zum Start in das Superwahljahr 2021 an diesem Sonntag? Während in Hessen Stadtverordnetenversammlungen, Kreistage, Gemeindevertretungen und Ortsbeiräte neu bestimmt werden, stehen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg Landtagswahlen an. Der in Mainz bestehenden Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen könnte wohl auch Winfried Kretschmann in Stuttgart etwas abgewinnen. Fliegt die CDU dort aus der Regierung, so steigt der Druck auf Parteichef Armin Laschet, auf dem selbst lastet, dass ihm sein Sohn „Joe“ Millionen-Deals mit Corona-Schutzausrüstung vermittelt hat. Markus Söder als Kanzlerkandidat der Union würde wahrscheinlicher. Weitere Etappen auf dem Weg in den heißen Herbst sind die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni und die Kommunalwahlen in Niedersachsen am 12. September. Zwei Wochen später, am 26. September, wählen Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Thüringen ihre Parlamente neu, zeitgleich zur Bundestagswahl.
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