Braucht Deutschland eine neue Verfassung?

Art 146 GG: Nach Snowden und TTIP müssen die Machtinstanzen endlich auf die Bürger verlagert werden. Ist eine vom Volk selbst initiierte Verfassung jetzt der letzte Rettungsanker?

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DIE BESORGNIS

Mit der zunehmenden intelligenten Vernetzung ganzer Wertschöpfungsketten (Industrie 4.0), eine in den Anfängen liegende IT-gesteuerte Verkehrsraumbewirtschaftung bis hin zur rundum überwachten Daseinsvorsorge hat sich nun ein Flaschengeist des Smart- und Big Data verselbständigt, der mit guten Worten allein kaum noch zurückzubringen ist. Die Bürgerinnen und Bürger stehen diesen Entwicklungen entweder desinteressiert oder hilflos gegenüber. Politiker und die Justiz können oder wollen die damit verbundenen Gefahren nicht erkennen. Das Ausmaß dessen, was auf uns noch zukommen könnte, kann man der Aussage eines ehemaligen Stasi-Häftlings im Gespräch mit Hubertus Knabe von der Stasi Gedenkstätte entnehmen: ,,Ich bin eure Zukunft. Ich habe schon erlebt, was ihr noch erleben werdet".

DIE VERFASSUNGSINITIATIVE

Vor diesem Hintergrund hat sich jetzt die Initiative 146 gegründet, um für eine neue Verfassung unter dem Einbezug aller Bürgerinnen und Bürger zu werben. Hierzu haben die Initiatoren alle einhundertsechsundvierzig Artikel des Grundgesetzes so umgeschrieben, dass ein konkret ausformulierter Verfassungsvorschlag entstanden ist, der über seine Wechselwirkungen das bisherige Gesellschaftsmodell zugunsten einer Gemeinwohl-Ökonomie ablösen möchte. Alles frei nach dem Gedanken Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag: ,,Das den Gesetzen unterworfene Volk muss auch deren Urheber sein." Dass sich der digitale Faden durch alle Artikel des Verfassungsvorschlages zieht, versteht sich dabei von selbst. Ob es sich um die Betrachtungs-weise von «Souveränität» oder «Cyber War» handelt, die «Freiheit im privaten, unternehmerischen und öffentlichen Raum»bis hin zum Artikel 7, der das «Recht auf digitales Nichtvorhandensein» fordert; alles ist auf Prävention und Schutz der Bürger ausgerichtet und enthält auch den einen oder anderen doppelten Boden. Machtmissbrauch soll in Zukunft keinen Nährboden mehr finden können.

DER ANSATZ DES ARTIKEL 146 GRUNDGESETZ (GG)

Mit der Entstehung des Grundgesetzes begann eine neue Epoche, die uns Frieden und Freiheit brachte. Dabei wurde das Grundgesetz - betrachtet man die Zeit, in der es entstand - mit einem höchst vorausschauenden, provisorischen Chrarakter ausgestattet:

«Das Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.»

Nach der Wiedervereinigung ist jedoch nichts passiert. Alle Bundesregierungen vertraten und vertreten noch immer die Rechtsauffassung, dass eine Anwendung des Artikels 146 GG zwar möglich, aber nicht notwendig sei. Kritiker führen an, dass das geltende Grundgesetz unter besatzungsrechtlichen Vorgaben und ohne die Mitwirkung des deutschen Volkes zustandegekommen sei und so nach der Wiedervereinigung eigentlich gar keine Gültigkeit mehr hätte. Auch sage der Artikel 146 GG nichts darüber aus, welche Personen an der Neugestaltung einer Verfassung beteiligt werden könnten und ob sie denn dem deutschen Volk in Form einer Volksabstimmung vorgelegt werden müsse. Aufgrund der europäischen Integrationsprozesse vertritt mittlerweile das Bundesverfassungsgericht verstärkt die Auffassung, dass wir mit der Verlagerung der politischen Macht oder der Rechtsprechung auf übergeordneter Ebenen das vom Grundgesetz verfasste Substrat bereits verlassen hätten. Es wird wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, wann wir ein von selbst ernannten ,,Experten", Banken, Hedgefonds und Politikern übergestülptes Konstrukt als Nachfolger des GG vorgelegt bekommen. Ein Konstrukt, das dann wohl kaum die Handschrift der Bürgerinnen und Bürger tragen wird.

WAS KANN EINE VERFASSUNG LEISTEN?

Die Frage ist, was wir von der Verfassung erwarten. Die einen verbinden damit nur einen reinen Ordnungscharakter, in dem politische Prozesse in dafür eingerichteten Organen eingesetzt und organisiert werden. Dies wird bereits hinreichend von dem immer weiter ausufernden Beamten- und Verwaltungsapparat vorgenommen. Andere hingegen sehen in der Verfassung ein Manifest, das bestimmte Ziele und Werte so vorformuliert, dass sich daraus eine (neue) Gesellschaftsordnung ableiten lässt. Um den dringend notwendigen Systemwechsel einleiten und die demokratischen Grundzüge langfristig absichern zu können, favorisiert die Initiative 146 den zweiten Weg.

WAS IST DIE ZIELGRADE DER INITIATIVE 146?

DAS RECHT AUF DIREKTE DEMOKRATIE

Was kaum bekannt ist: In Deutschland gab es bereits einmal direktdemokratische Elemente. So räumte der Artikel 73 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 der Bevölkerung das Recht ein, aus den eigenen Reihen Gesetzesentwürfe zu erarbeiten, dem Parlament zu unterbreiten und bei Ablehnung über einen Volksentscheid abstimmen zu lassen. Daher fordert die Initiative 146 im Artikel 37 des Verfassungsvorschlages auch Volksabstimmungen auf fakultativer und obligatorischer Ebene.

DAS DEN GESETZEN UNTERWORFENE VOLK MUSS AUCH DEREN URHEBER SEIN

So steht es im Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau. Nach den Grundlagen der direkten Demokratie würde der Bürger bereits ein wesentliches Recht zur Gesetzeslegung und der Gesetzesänderung erhalten. Darüber hinaus sollte ihm auch das Recht obliegen, über alle Rechts- und Durchführungsverordnungen, Erlasse, Verkündungen und Bekanntgaben über ein Referendum in letzter Instanz zu befinden. Mit der Abschaffung der Beamtenschaft, der Einführung eines für alle geltenden Sozialfonds, der Neuordnung bisheriger Verwaltungsstrukturen und der Idee, das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz zu führen, würde über diesen Verfassungsentwurf endlich auch die Justiz vollständig reformiert werden können.

Dass bloße Kontrollfunktionen wenig ausrichten können, haben schon die Väter der US-Unabhängigkeitserklärung von 1793 erkannt. Bereits damals gestand man den Bürgern das Recht zu, eine Regierung so zu verändern oder gänzlich abzuschaffen, je nach dem, wie es dem Allgemeinwohl am dienlichsten erscheint (Art. III, Virginia Bill of Rights).

Nicht mehr und nicht weniger steht auch im Artikel 84 Absatz 4 des neuen Verfassungsvorschlages: «Eine Amtsenthebung von Regierungsmitgliedern kann durch entsprechende Referenden jederzeit vorgenommen werden. »

DIE FREIE ENTFALTUNG DER PERSÖNLICHKEIT

Dieser Artikel wird auch als Artikel der ,Allgemeinen Handlungsfreiheit" bezeichnet. Handlungsfreiheit entsteht aber erst dann, wenn die physische Existenz jedes Einzelnen und die ungehinderte Mitwirkung und Teilhabe an der Gesellschaft, unabhängig vom sozialen Status, verwirklicht werden kann. Als Fortschreibung der bisherigen Menschenrechtsinstrumente in den Bereichen der bürgerlichen und politischen, sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte hat die Initiative 146 den bisherigen Artikel 2 um einen Absatz 3 erweitert und bewusst ein lebenslanges bedingungsloses Grundeinkommen integriert.

DAS RECHT AUF SELBSTBESTIMMTE ARBEIT

Im Artikel 17 des Verfassungsvorschlages wird das Recht auf eine selbstbestimmte Arbeit verankert. Alle Errungenschaften unserer Gesellschaft beruhen auf Arbeit. Hierzu gehören auch schöpferische Gedanken, Erfindungen, kurz alles, was dazu geführt hat, dass Produktivitäts-steigerungen auch ohne einen vermehrten Einsatz ,,der Hände Arbeit" möglich geworden sind. Wer Arbeit neu definiert, wird auch die klassische Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Position aufgeben und Partizipationsmodelle in Bezug auf neue Unternehmens-, Beteiligungs- und Entlohnungsformen entwickeln müssen. Unternehmertum wird wieder an der Basis entstehen. Das Patentrecht, die Arbeitsgesetzgebung bis hin zu einer neuen Positionierung der Gewerkschaften, alles wird unter einer anderen Verfassungsgebung neu konzipiert werden müssen. Die derzeitigen Bewohner des Planeten und die kommenden Generationen werden nur gemeinsam die Probleme der Ernährung, der Produktion, einem dazugehörigen Management bis hin zur Beseitigung der entstehenden Abfälle lösen können. Würden wir diese Aufgaben als «Arbeit» definieren, steuern wir in Richtung Vollbeschäftigung.

DAS RECHT AUF GEMEINGÜTER (COMMONS)

Der Artikel 20 des Vorschlages setzt sich mit der Erhaltung der Lebensgrundlagen auseinander, die nach den bisherigen Ausuferungen nun verfassungsrechtlich abgesichert werden. Hierzu gehört die Sicherstellung aller verfügbaren Ressourcen, wie Natur- und Bodenschätze, Sand, Wasser, saubere Luft, Energie, die Nutzung des Internets bis hin zum Recht auf Mobilität. Ressourcen haben der Allgemeinheit und besonders dem Wohle und Bedürfnissen zukünftiger Generationen zu dienen. Sie sind daher nur unter staatlicher Verwaltung und unter Aufsicht der Bürger zu nutzen und zu verteilen. Jedwede Veräußerung zu privaten oder wirtschaftlichen Zwecken wäre nach Ansicht der Initiative 146 verfassungswidrig.

Auch im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Aussagekraft des BIP werden wir zu neuen Ansätzen kommen müssen. Wie bewerten wir den Verlust von Ressourcen und die Zerstörung der Lebensbedingungen für die jetzigen und nachkommenden Generationen? Was kostet die Luft, wenn der Schadstoffausstoß die Lebensbilanz des Menschen negativ beeinflusst und welchen Preis verlangen die Bürger für die Nutzung hierfür?

Die oben genannte beispielhafte Betrachtungsweise in Bezug auf den Art 20 soll dazu führen, dass die Lösung für viele gesellschaftliche, finanzpolitische und Umweltprobleme nur die sein kann, bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen der Vergangenheit aufzugeben und ,,den Märkten" zu entziehen.

DIE DIGITALE REVOLUTION

Wer das Netz beherrscht, beherrscht die Welt. Napoleon war gestern, moderne Eroberungen finden über das Netz statt. Ein Klick reicht aus, um ganze Völker von den Versorgungsnetzen der Infrastruktur abzuhängen, ihnen die Lebensgrundlagen zu entziehen oder atomare Katastrophen hervorzurufen. Damit sind wir auch erpressbar geworden.

Daher enthält der neue Verfassungsvorschlag auch unbequeme Betrachtungsweisen. Wer auch immer das Recht auf einen souveränen Staat (Artikel 15) oder Selbstbestimmung der Bürger über ein vollumfassendes Überwachungssprogramm außer Kraft setzen oder in Frage stellen will, für den müssen klar formulierte Sanktionsmaßnahmen gelten. Dabei macht die Initiative 146 keinen Unterschied zwischen einer ,,guten" oder ,,bösen" Bespitzelung.

LEITLINIEN FÜR EIN NEUES EUROPA

Europa ist vor allem Kultur und Völkerverständigung. Europa wird scheitern, wenn es wie bisher den auf rein wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Ökonomisierungstrend fortsetzt und ganze Völker in die Armut treibt. Europa ist auch nicht an einer gemeinsamen Währung festzumachen, weil eine Währung nur ein Zahlungsmittel darstellt. Sie kann, wie es uns die Historie gelehrt hat, beliebig ausgetauscht werden. Um weiteren Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, besser noch zu vermeiden, hat auch hier die Initiative 146 die unbequeme Variante gewählt, in dem sie vorschlägt, das bisherige intransparente und undemokratische Konstrukt des Wirtschaftslobbyismus einschließlich der bisherigen Abtretung von Hoheitsrechten an die supranationale Einrichtung EU kurzerhand aufzulösen. Die Lösung des Gordischen Knotens und der Neustart eines bislang veralteten Betriebssystems könnte möglich werden.

Mit dem Verfassungsvorschlag und den enthaltenen Leitlinien für Europa und eine von allen Bürgerinnen und Bürgern zu konzipierenden Europäischen Verfassung wird ein erstes Grundlagenpaket formuliert, das die von den Völkern gewählten europäischen Parlamentarier kurzfristig auf den Weg bringen könnten. Hierzu gehören natürlich ein sofortiges europäisches Grundeinkommen, ein einheitliches Sozial-, Finanz-, und Steuersystem sowie eine europäische Umwelt- und Energiepolitik.

Europa ist unsere Zukunft; das bisherige EU-Konstrukt eine Sackgasse. Wenn wir es nicht schaffen, die Lebensbedingungen aller Europäer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wird Europa daran zerbrechen.

DER LETZTE RETTUNGSANKER

Gemäß einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung vom Juli 2010 wünschen sich 88 Prozent der Deutschen und 90 Prozent der Österreicher eine neue Wirtschaftsordnung. Somit ist schon jetzt abzusehen, dass die rein auf Kapitalismus ausgerichtete Gesellschaftsordnung in absehbarer Zeit ein Ende finden wird. Kein Regime kann auf Dauer gegen den Willen und die Interessen seiner Bürger bestehen. Ob es dann eine von Bürgern eingeleitete Transformation oder eine von Verteilungs-kämpfen geleitete Revolution sein wird, liegt in unserer Hand. Bei Revolutionen gab es, geschichtlich besehen, stets zu viele Opfer und Verlierer. Vielleicht ist eine neue Verfassung sogar der letzte bürgerliche Rettungsanker, um das Ruder noch einmal herumzureißen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

initiative146

Die Initiative 146 wirbt für eine Verfassung in Deutschland und hat dazu bereits einen ausformulierten Verfassungsvorschlag ins Netz gestellt.

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