Demenzkranke - Probanden der Pharmaindustrie?

Minister Gröhe. Demenzkranke als kostenlose und hilflose Probanden für die Pharmaindustrie. Der Betreuer als Handlanger. Wohin driftet diese Republik nach 75 Jahren?

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Nun ist es wieder soweit. Zur Verbesserung von Therapien plant Bundesgesundheitsminister Gröhe Medikamentenversuche auch an Demenzkranken zuzulassen. Dabei gab er zu verstehen, dass klinische Studien nur dann möglich seien, wenn der Patient einer Teilnahme noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zugestimmt habe. Zudem sei das Einverständnis eines Betreuers erforderlich, betonte Gröhe. Insofern, so betonte er, stünden der Wille und der Schutz der Patienten an erster Stelle.

Trotz dieser Ungeheuerlichkeit fiel die Empörung eher müde aus. Kritik gab es ein wenig von der Opposition und von den Kirchen. Immerhin verwies die kirchenpolitische Sprecherin Griese auf den Missbrauch behinderter Menschen während des Nationalsozialismus und verlangte mehr Sensibilität bei solchen Themen. 75 Jahre nach dem Naziregime scheinen Menschenversuche an hilflosen Personen unter kapitalistischen Vorzeichen, zugunsten des Pharmalobbyismus, nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen zu werden.

Auch den Nürnberger Kodex von 1947 scheint niemand mehr zu kennen. Denn dieser Kodex wurde anlässlich der im Namen der medizinischen Forschung begangenen Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus ins Leben gerufen. Hierzu zählten auch die Menschenversuche in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Jetzt sind es die Altenheime.

DER NÜRNBERGER KODEX VON 1947

Wer sich die Kapitel 1 und 9 genauer ansieht, wird feststellen, dass Bundesminister Gröhe entweder diesen Text nicht kennt oder nicht kennen will. Geschichtsvergessenheit und Verdrängung als Neuauflage des unsäglichen Systems zugunsten des Pharmalobbyismus:

(1) Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.

(9) Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.

Diese Kriterien dürften bei einem Dementen kaum zu realisieren sein. Daher hat Bundesminister Gröhe sich nun auch ausgedacht, diese Entscheidung bis zur letzten Konsequenz dem Betreuer zu übertragen. Der Betreuer, als Herrscher über Leben, Leiden und Tod eines hilflosen Patienten?

BERUFSBETREUER SIND KEINE ENGEL

Berufsbetreuer kann im Prinzip jeder werden. Eine Berufsausbildung hierfür gibt es nicht. Wie Transparency International in der mit der Friedrich-Ebert-Stifung veröffentlichten Untersuchung "Transparenzmängel, Korruption und Betrug in der rechtlichen Betreuung" vom 10.11.2015 treffend feststellte, lockt die wehrlose Situation der Betreuten natürlich auch schwarze Schafe an. Denn immerhin beträgt das durchschnittliche Vermögen von Betreuten im Durchschnitt gut 100.000 Euro. Und so bilden das eine oder andere Gericht, der Heimleiter und der betreffende Arzt so manche unsägliche Allianz, die nicht immer zu Gunsten des Betroffenen ausgeht.

MEDIKAMENTENTESTER WERDEN GUT BEZAHLT. WER KASSIERT DIE "RISIKOPRÄMIE"?

«Die Pharmaindustrie muss ständig klinische Studien durchführen, um die Wirksamkeit von neuen Medikamenten zu testen, oder auch um eine Aussage über eine Langzeittherapie mit einem bestimmten Wirkstoff treffen zu können. Medikamententester, die sich für diese wichtige Aufgabe zur Verfügung stellen, erhalten für ihre Bereitschaft, mitzuwirken, ein Honorar. Dieses beinhaltet sogar Vollverpflegung und Unterbringungskosten auf die Dauer einer Studie, sofern sie unter vollstationären Bedingungen durchgeführt werden muss. Bei ambulanten Studien sind Anreisekosten bei der Kalkulation des Honorars berücksichtigt. Zusätzlich wird der Zeitaufwand angemessen entschädigt.» Mit diesen Worten will die Pharmalobby offiziell Testpersonen gewinnen.

Leider gibt es jedoch zu wenig Probanden, die willens sind, sich dauerhaft für diese Art von Medikamententests zur Verfügung zu stellen. Aus diesem Grund kann sich das angebotene Honorar im Bereich von einigen Hundert Euro bis zu einigen Tausend Euro bewegen. Je höher das Risiko, desto besser die Verdienstmöglichkeiten. Im Vergleich zu den zu erzielenden Gewinnen, nicht einmal ein Linsengericht.

Nun stellt sich die berechtigte Frage: Wer kassiert die "Risikoprämie"? Wenn es der Betreuer nicht ist, wandert das Geld dann in die Staatskasse? Oder arbeiten die dementen und willenlosen "Versuchskaninchen" sogar umsonst für die Pharmaindustrie?

Herr Minister Gröhe, wir warten auf Ihre Antwort!

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Geschrieben von

initiative146

Die Initiative 146 wirbt für eine Verfassung in Deutschland und hat dazu bereits einen ausformulierten Verfassungsvorschlag ins Netz gestellt.

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