Freizügigkeit gibts nicht für arme EU-Bürger

EuGH in der Kritik. Über den Europäischen Gerichtshof verfügt die EU bereits über eine eigene marktliberale Rechtsinstanz. So ist es kein Wunder, dass Hartz-IV nicht für Unionsbürger gilt.

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Mit dem Urteil vom 15. September 2015 in der Rechtssache C-67/14 hat der Europäische Gerichtshof bestätigt, dass die Europäische Union eine Wirtschafts- und keinesfalls eine Sozialunion ist. Gemäß Artikel 7 Absatz 1 und 3 der EU-Richtlinie 2004/38 gilt die Freizügigkeit nämlich nur, wenn der Betreffende

  • Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist, oder

  • für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass diese während ihres Aufenthaltes keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaates in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsanspruch im Aufnahmemitgliedsstaat verfügen.

Obwohl die Klägerin im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften erwerbsfähig war und innerhalb eines Jahres zwischen Erwerbstätigkeit und sogenannten Arbeitsgelegenheiten pendelte, hat sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Denn diese enden bei EU-Bürgern automatisch nach drei Monaten. Dabei soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Arbeitsgelegenheiten, 1-Euro-Jobs oder die neue sogenannte Bürgerarbeit, die nun auch für Langzeitarbeitslose im Bereich der Flüchtlingshilfe gelten soll, trotz Sozialversicherungspflicht keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung (ALV) beinhalten. So wird der Erwerbstätige also niemals Ansprüche aus Versicherungsleistungen (ALG I) erwerben und als Dauerkunde im System der Sozialhilfeleistungen (SGB II oder SGB XII) verbleiben. Für EU-Bürger bedeutet das faktisch die Rückfahrkarte ins Heimatland.

Dass dieses Urteil in neoliberalen Kreisen positiv aufgenommen wurde, versteht sich von selbst. Ganz unverblümt und praktisch wird man sich der Arbeitskraft der immer weiter verarmenden EU-Wanderarbeiter in der Landwirtschaft oder Pflege auch weiterhin problemlos bedienen. Wie sich liberale Ökonomen Deutschland vorstellen, kann man der Buchbeschreibung «Verspielt nicht eure Zukunft!» von Hans-Werner Sinn (ifo-Institut) ansatzweise entnehmen. Dort heißt es u. A.: ,,Um die (vermeintliche) Zuwanderung vor allem aus Bulgarien und Rumänien ins deutsche Sozialsystem zu stoppen, will der Autor das Heimatlandprinzip für steuerfinanzierte soziale Leistungen innerhalb der EU einführen." Zum Schutz des Sozialstaates möchte man also Zuwanderer möglichst weitgehend von den Sozialleistungen Deutschlands fernhalten. Dies gilt insbesondere für steuerfinanzierte Leistungen, wie Sozialhilfe oder Wohngeld.

Was jetzt auf EU-Ebene stattfindet, gab es bereits im Freizügigkeitsgesetz des Elberfelder Grundmodells von 1850. Das gab jenen Deutschen das Recht, sich an jedem Orte des Reiches aufzuhalten, die über eine eigene Wohnung und über ein eigenes Einkommen verfügten. Ein Blick in die Historie sollte jedem "modernen Sozialpolitiker" das Blut in den Adern gefrieren lassen und ihm offenbaren, dass wir uns gesellschaftspolitisch bereits auf dem Rückmarsch in unsägliche Zeiten befinden. Denn auch jetzt gilt Freizügigkeit nur für die, die es sich leisten können. Ein Armutszeugnis für das reiche Europa.

UNTER DER LUPE SIND EU-GRUNDRECHTSCHARTA UND MENSCHENRECHTE NICHT EINMAL DAS PAPIER WERT

Die heutige EU entstand auf Grundlage der Römischen Verträge von 1958. Sinn und Zweck war es, den «Abbau der Schranken für Waren und Dienstleistungen» voranzutreiben. Auch die Fortschreibungen bis hin zum Vertrag von Nizza (16.12.2000), der einen Beschluss zur Schaffung einer Grundrechtscharta beinhaltete, hat an der eigentlichen wirtschaftlich ausgerichteten Doktrin nichts geändert. Daher verwundert es auch nicht wirklich, dass selbst die Charta der Grundrechte für die Europäische Union (C 83/389) vom 30.03.2010 mehr den Charakter einer Art Wirtschaftsverfassung aufweist und in einigen Artikeln schon recht skurrile Züge trägt. So ist im Artikel 29 vom «Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst» die Rede, der jedem Menschen das Recht zuspricht, einen «Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst» zu haben. Auch die Überschrift des Artikel 34 «Soziale Sicherheit und Unterstützung» hält nicht das, was man erwarten würde. Denn letzendendes wird es den jeweiligen Nationalstaaten selbst überlassen, wie sie ein «menschenwürdiges Dasein» interpretieren. So heißt es im Absatz 1: ,,Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach Maßgabe des Unionsrechtes und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten."

Würden wir nun den ungarischen Ministerpräsidenten und im Anschluß Gregor Gysi zu Rate ziehen, was sie denn jeweils unter einem menschenwürdigen Dasein verstehen, dürften sich hier bereits die Geister scheiden.

Auch die ständig gepriesenen Menschenrechte sind individuell auszulegen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution 217 A (III) der Vereinten Nationen von 10. Dezember 1948) heißt es unter Artikel 25: ,,Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände."

Den «Verlust der Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände» wird ein (neo)liberaler Ökonom sicher ganz anders interpretieren als ein Gewerkschaftssekretär. In Deutschland gibt es eine Sperre des Arbeitslosengeldes, sollte der Arbeitnehmer es wagen, sich seines prekären Arbeitsverhältnisses eigenhändig entledigen zu wollen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann der EuGH dem Bundesarbeitsgericht die oben genannten und wachsweichen Artikel um die Ohren schlägt, um die weitere Eindampfung der Arbeitnehmerrechte ungehindert fortzuschreiben, weil niemand bislang die oben genannten Rechte je konkretisiert hat. Hierbei könnte die Festlegung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das sich nicht an Gepflogenheiten orientiert und auch nicht nach den Verschuldensgründen der Armut fragt, Gerechtigkeit erzeugen. Gleichzeitig müsste man weniger weltfremde Richtersprüche ertragen.

IST DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF HANDLANGER DES KAPITALS?

Nach den obigen Auslegungskritierien, gepaart mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, könnte man sich die berechtigte Frage stellen, ob die Aufgabe des EuGH nicht nur noch darin besteht, eine marktliberale Pseudorechtsstaatlichkeit zu verfestigen, um das Kapital auch weiterhin ungestört politisch verankern zu können. Also eine Art willfähriger Handlanger der Finanzindustrie.

Nun mag der eine oder andere Kritiker sich vielleicht ohnehin schon überlegen, welche Legitimation der Europäische Gerichtshof überhaupt hat und warum ein Bundessozialgericht in Deutschland seine Sozialgesetzgebung von einem Gericht bestätigen lassen will, dass nur auf supranationaler Ebene existiert. Jedem juristischen Laien dürfte mittlerweile bewußt sein, dass unsere Gerichtsbarkeit längst aus den Angeln gehoben wurde. Auch die Überlastung der Gerichte mit ständig weiteren Auflagen, Etatkürzungen, Gesetzen, Verordnungen, Formalien gehören zum politisch gewollten K.O - System. Welcher Richter wird sich nicht gern die Arbeit erleichtern, wenn er die Möglichkeit sieht, einen Fall schlichtweg einzutüten und an die nächsthöhere Instanz abgeben zu können. Wer richtig zugehört hat, hätte allerdings schon 1958 hellhörig werden müssen. Nämlich als der erste Kommissionspräsident der EWG, Walter Peter Hallstein, Jurist und CDU-Politiker, erklärte, dass Europa sich zu einer "Rechtsgemeinschaft" entwickeln müsse. Das war bereits der erste Schritt in die Abschaffung der nationalen Gerichtsbarkeiten. So werden sich die Aufgaben der deutschen Gerichte wahrscheinlich in Zukunft nur noch auf einfache und untergeordnete Tätigkeiten beschränken. Hierzu zählen dann Dinge wie Falschparken, Mundraub und die Aburteilung gewöhnlicher Eierdiebe. Denn die staatstragenden Verschiebungen dieser Republik befinden sich längst auf internationaler Ebene. So darf auch die unbequeme Frage erlaubt sein, warum wir dann überhaupt noch den kostenintensiven Staatsapparat von hochdotierten Richtern finanzieren sollten, wenn diese nur noch die Entscheidungen von übergeordneten Sondergerichten abtippen und vortragen.

Interessant ist daher auch die Betrachtungsweise der Autoren Bieling, Hans-Jürgen / Steinhilber, Jochen in ihrem Werk «Die Konfiguration Europas (2000)» sowie Stephen Gill (Theoretische Grundlagen einer neogramscianischen Analyse der europäischen Integration):

,,[...] Der neue Konstitutionalismus ist mithin die politisch-rechtliche Dimension des umfassenderen Diskurses des disziplinierenden Neoliberalismus. In diesem Diskurs geht es vor allem darum, die Eigentumsrechte und Freiheiten der Investoren zu sichern und den Staat und die Arbeit unter die Disziplin des Marktes zu unterwerfen [...] Die entscheidende strategische Bedeutung des neuen Konstitutionalismus besteht [...] darin, dass er versucht, die Macht des Kapitals gerade langfristig politisch zu verankern."

Mit anderen Worten: Beim europäischen Recht handelt es sich um eine eigenständige und marktliberale Rechtsordnung, für deren Auslegung und Anwendung nun der Europäische Gerichtshof sorgt.

Mit TTIP, dem Investorenschutz und den europäischen Scheingefechten bezüglich der Schiedsgerichtsbarkeit hieven wir das marktliberale Rechtssystem nur auf die nächsthöhere Instanz. Der EuGH ist also nur eine Vorstufe zum neuen Konstitutionalismus, in der Global Player nicht nur das Geld, sondern auch das Recht in der Tasche haben. Die Vervollkommnung der Macht. Darüber steht dann nur noch Gott.

Es erinnert irgendwie ein wenig an den Kinofilm "Independence Day", in dem eine außerirdische Macht von Planet zu Planet zieht, dabei auf die Erde trifft, um diese dann wie ein Heuschreckenschwarm restlos auszuplündern und zu verwerten. Dabei ist das Leben und Überleben der Menschen bedeutungslos. Der Unterschied von Film und Wirklichkeit besteht nur darin, dass uns heute anstatt der Aliens Menschen ausplündern, denen wir durch unsere hausgemachte Gleichgültigkeit und Passivität zur Macht verholfen haben. In Hollywoods Traumfabrik siegen glücklicherweise zum Schluss immer die ,,Guten". Wie aber wird es diesmal im richtigen Leben sein? Darauf wetten werden wohl nur wenige!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

initiative146

Die Initiative 146 wirbt für eine Verfassung in Deutschland und hat dazu bereits einen ausformulierten Verfassungsvorschlag ins Netz gestellt.

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