Wo ist die neue geistig moralische Wende?

Deutsche Einheit. Vor 25 Jahren erfuhr die DDR ein neues Gesellschaftssystem, das nicht nur die Freiheit, sondern auch den Raubtierkapitalismus brachte. Zeit für eine erneue Zeitenwende?

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VON BLÜHENDEN LANDSCHAFTEN KANN KEINE REDE SEIN

Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, in dem die Freiheit sich eher zurückentwickelt hat, als das sie eine für alle Menschen positiv besetzte Dimension angenommen hätte. Unsere politischen Führer biegen die Grundrechte so zurecht, dass sie vielfach eingeschränkt und gänzlich ausgehebelt werden. Freizügigkeit gilt nur für Millionäre und nicht für die, denen man die Lebensgrundlagen aufgrund von Waffenverkäufen, Kriegswirren und Globalisierungsfeldzügen entzieht.

Mit der Digitalen Revolution haben wir unsere Freiheit erneut preisgegeben; die Überwachung bei der früheren Stasi (DDR-Jargon "Horch und Guck") findet jetzt kapitalistisch, hochtechnisiert, effektiver und wesentlich subtiler statt. Sie sitzt in Fom des Smartphone mit am Frühstückstisch und loggt sich jeden Morgen pünktlich am Arbeitsplatz ein, ohne dass wir davon Notiz nehmen. Von blühenden Landschaften kann nicht ansatzweise die Rede sein und nach 25 Jahren ist hier eine eher traurige Bilanz zu ziehen. Die technikaffine Generation Y wird dabei gänzlich auf der Strecke bleiben, denn jeder zweite Arbeitsplatz ist nicht nur befristet sondern auch prekär. Denn als was sollte man es sonst bezeichnen, wenn 60 Prozent der jungen Beschäftigten trotz Arbeit gerade einmal ein monatliches Einkommen von 1.500 Euro haben.

DER MENSCH IST FREI GEBOREN, ABER ÜBERALL LIEGT ER IN KETTEN

Mithilfe der politisch Verantwortlichen konnte sich in Deutschland ein ungebremster Raubtierkapitalismus entwickeln, der uns immer mehr an die vergangenen Tage der Feudalgesellschaften erinnert. ,,Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten", so heißt es im ersten Satz des von Jean-Jacques Rousseaus konzipierten Gesellschaftsvertrages. Im 18. Jahrhundert feierten auch die damaligen Aufklärer mit Recht den neuen Parlamentarismus in England. Nach einer Europa-Reise erklärte Montesquieu, dass England ,,das zurzeit freieste Land der Welt sei, weil der Herrscher nicht die Macht hat, irgendwem irgendein ausdenkbares Unrecht anzutun, da seine Macht vom Parlament kontrolliert und durch Parlamentsgesetz beschränkt wird".

Was hätte der Staatstheoretiker Montesquieu, der das Wohl des Volkes stets in den Vordergrund stellte, wohl heute gesagt, wenn ihm klargeworden wäre, dass Parlamente das Unrecht nicht kontrollieren oder beseitigen, sondern im Namen der Mächtigen noch intensivieren und ein Menschenleben seine Bedeutung verliert, wenn es um das pure Geldverdienen geht. Was hätte er den absolutistischen Finanzmogulen, den Repräsentanten von TTIP, CETA und den "Monsantos", wohl zugerufen und wie hätte er das jetzige System bewertet? Nach Aussage des Romanisten Werner Krauss waren die Auslöser der Französischen Revolution vor allem sozialökonomische Faktoren wie die desolaten Staatsfinanzen und die horrenden Brotpreise. Fest steht, dass immer mehrere Faktoren zusammentreffen, damit ein politisches Bewusstsein zustande kommt. Wie Voltaire so treffend bemerkte, hätte sich damals im ,,menschlichen Geist eine Revolution ereignet, die nichts mehr zum Stehen bringen" konnte. So war es sicher auch 1989.

WIE ,,FEIERN" WIR EIGENTLICH DEN 3. OKTOBER?

Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet in der europäischen Bankenmetropole Frankfurt am Main die staatstragenden Reden und Feierstunden der Reichen und Schönen stattfinden und nicht etwa in Frankfurt an der Oder. In vielen Städten Deutschlands werden heute sogar die Kaufhäuser geöffnet, damit alle Einwohner ihrer ersten deutschen Bürgerpflicht nachkommen können: Nämlich ein guter Konsument zu sein, dessen Lebensinhalt aus Shoppen besteht, um Dinge zu erwerben, die die Community beindrucken soll, die man selbst aber gar nicht braucht. Ein Tag, der erneut den Kapitalismus stärken und nicht etwa aus Nachdenken, Infragestellen oder gar Selbstreflektion bestehen soll und wird. Ein Feiertag, der eigentlich ein gewöhnlicher Werktag ist und am Abend in vollkommener Zufriedenheit die eine oder andere Kasse wieder klingeln ließ.

WIR BRAUCHEN NICHT NUR EINE DEUTSCHE, SONDERN EINE EUROPAWEITE WENDE

Wir alle haben die Französische Revolution verstanden und feiern die friedliche Revolution von 1989. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch das immer weiter auswuchernde diktatorische Gesellschaftsmodell des Raubtierkapitalismus sein Ende finden wird. Denn jede Revolution ist und bleibt ein Aufstand gegen die alte verhasste Ordnung.

Zur Zeit errichtet "das System" wieder Zäune und Mauern. Europa zerfällt mehr und mehr in nationalistische Interessen. Durch die schiere Anzahl Flüchtlinge in kurzer Zeit zeigt sich die Hilflosigkeit und der morsche Bau der EU als das was sie ist: eine reine Wirtschaftsunion. Die EU ist das Abbild eines Neoliberalismus, der sogar Menschen in nützliche oder nicht nutzbare Einwanderer einteilt. An ihr ist nichts von "sozial", geschweige denn von "Union" zu spüren. Beides ist schlichtweg nicht vorhanden.

Daher sollten wir den 3. Oktober 2015 als Tag des deutschen und vielleicht sogar europäischen Aufbruchs zu neuen Ufern begreifen. Auf alle Fälle aber als Tag einer dringend benötigten Selbstreflektion.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

initiative146

Die Initiative 146 wirbt für eine Verfassung in Deutschland und hat dazu bereits einen ausformulierten Verfassungsvorschlag ins Netz gestellt.

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