Charme statt Chaos - wie die Piraten nur gewinnen können

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Die Piraten sind nicht ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden, weil sie politisch so stark sind. Mit ihren zahlreichen, teilweise völlig absurden Forderungen konnten sie kaum punkten, denn die Politik, die im Abgeordnetenhaus gemacht wird, zeichnet sich bekanntlich durch die Kunst des Machbaren aus. Das wissen auch die Berlinerinnen und Berliner und darum kann es das also nicht gewesen sein, was so viele von ihnen begeistert für die Piraten stimmen ließ. Doch was war es dann?

Es ist eigentlich ganz einfach: die Piraten sind gewählt worden, weil die anderen so schwach sind. Und deren entscheidende Schwäche heißt: Digitalisierung. Die Piraten waren die Einzigen, die glaubhaft das Lebensgefühl von Menschen repräsentierten, für die digital und analog längst untrennbar miteinander verschmolzen sind und die einer despektierlichen Internetignoranz überdrüssig waren. Der größte Fehler, den die anderen Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus jetzt wohl machen können, ist deshalb, die Piratenpartei so ähnlich wie die NPD zu behandeln: als nervigen und auch etwas unappetitlichen, aber irgendwie reingerutschten Unfall, grundsätzlich unbedeutend, irgendwie gaga und hoffentlich nur vorübergehend.

Überraschend wäre das jedoch nicht. Beide Seiten - Nerds wie Internetausdrucker - scheitern häufig an ihrer Haltung und Starrköpfe eines solch zerstörerischen Kalibers dürfte es in beiden Lagern zu Genüge geben. Man ist zwar irgendwie aufeinander angewiesen, aber man behandelt sich nicht so. Lieber ergeht man sich in Streitereien, abschätzigen Kommentaren und „Meinungsrotzerei“. Daß man so jedoch weit unter den jeweiligen Möglichkeiten bleibt, dürfte nicht überraschen. Deshalb hat die Piratenpartei durch ihr grandioses Wahlergebnis jetzt einen enormen strategischen Vorteil: sie kann diesen Teufelskreis durchbrechen und zeigen, daß Nerds mehr als nur schrullige Computerfreaks sind.

Nachdem alle anderen Parteien mehr oder weniger deutlich gezeigt haben, wie nachrangig Internet und Digitalisierung für sie sind und wie abschätzig sie Nerds und Geeks häufig behandeln, kann die Piratenpartei hingegen mit einer Charme- und Kompetenzoffensive nur gewinnen. Man stelle sich das einmal vor: die Bürgerinnen und Bürger wollten überraschend deutlich Piraten im Parlament und erteilen den anderen Parteien damit eine digitale Klatsche par excellence und dann bekommen sie Piraten, die sich auch noch klug, diplomatisch und pragmatisch verhalten, die seriöse, aber nicht langweilige oder gar blutleere Politik liefern und damit die polemisierenden Internetausdrucker noch mehr blamieren als diese es ohnehin schon selbst getan haben. Das wäre ein Paradigmenwechsel, der für viele der etablierten Parteien wohl eine enorme Herausforderung darstellen dürfte.

Scheitern können die Piraten im Umkehrschluß vor allem dann, wenn sie sich im Chaos einrichten, lächerliche Positionen verkrampft verteidigen oder nur kleinteilige Nerdpolitik machen. Ich habe es in der Vergangenheit mehrfach betont: sich in der eigenen Nische festzubeißen ist keine Lösung, wenn man einen allgemeingültigen Gestaltungsanspruch hat. So würden die Piraten tatsächlich nur ein Ausrutscher in der politischen Geschichte Berlins bleiben. Da sie sich aber klugerweise für den parlamentarischen Weg entschieden haben (und diesen nun auch beschreiten dürfen), müssen sie ihn nun auch klug beschreiten - denn so haben sie eine historische Chance, die sich nur Narren entgehen lassen. Daß niemand ernsthaft mit so einer Chance gerechnet haben mag, macht die Sache im Übrigen keineswegs schwieriger, sondern die Erfolgschance nur noch charmanter.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stephan Humer

Stephan G. Humer

Promovierter Diplom-Soziologe u. Informatiker; Professor und Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie, Hochschule Fresenius Berlin; Koordinator Spitzenforschung, Netzwerk Terrorismusforschung e.V.

Stephan Humer

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