Piraten enttäuschen aufgrund von Nerdismus

Parteiarbeit Der Nerd taugt erwartungsgemäß nicht als Vorbild für die gesamte Gesellschaft

Das war absehbar und ist nun auch für jedermann - dank des "Erfolgs" der Piratenpartei - deutlich erkennbar, nicht nur aufgrund der unsäglichen Sexismus- und Rassismus-Vorfälle in den Reihen der Piraten. Wer die Nerd- und Hackerszene kennt, weiß, daß sie recht schnell und oft an Grenzen stößt, wenn es nichtdigital wird. Die Hackermentalität, das Nerdhafte bieten keinen breit aufgestellten Vorbildcharakter, weil der Ego- und Ethnozentrismus, die besondere Sozialisation, der hohe Spezialisierungsgrad, der starke technische Wettbewerb und wohl noch einige andere Faktoren dies - vor allem in dieser besonderen Kombination - nicht hergeben.

Es ist nicht völlig abwegig, wenn man aufgrund eines hochspezialisierten, hochkompetitiven und allseits gefragten Arbeitsumfeldes nur noch wenig Zeit für den Blick über den Tellerrand findet. Das ist an sich auch kein Problem - solange man sich nicht anmaßt, mit dieser Haltung einen Allgemeingültigkeitsanspruch vertreten zu können. Und genau das haben die Piraten getan: sie sind angetreten mit der Idee, Politik besser machen zu können als die "etablierten" Parteien und Politiker. Das ist bisher grandios in die Hose gegangen und sorgt natürlich für Unmut, wie man nun (im Übrigen zum x-ten Mal) lesen kann. Der Wandel vom Spezialisten zum Generalisten ist aber nicht nur allgemein eine Herausforderung, sondern im Falle des Nerds ganz besonders.

Als Folge des Nerdismus entstehen "menschliche Probleme, von mit Hingabe gepflegter Antipathie bis hin zum teilweise rüden Umgangston, etwa wenn es auf Twitter heißt, ein Fraktionskollege solle „die Fresse halten“. Einer der Abgeordneten sagt: „Wir sind wie eine Fußballmannschaft, in der nie jemand abspielt.“" Das hat auch nichts mit Individualismus oder einem "selbstbestimmten Leben" zu tun. Der Nerd, der ein guter, ja sogar ein besserer Abgeordneter sein will (und das wollten die Piraten ja, nicht nur, weil sie mit diesem Versprechen zur Wahl angetreten sind, sondern auch, weil sie sich sonst nicht massiv auch nichtdigitalen Themen widmen würden, bereits zum zweiten Mal einen Mediator einbestellt hätten und zunehmend mäßigere Töne in der Kommunikation nach außen anstreben würden), muß das Nerdhafte auf der Prioritätenliste sehr weit nach unten schieben, sonst wird immer wieder dasselbe passieren, was nun in Berlin von den Piraten auf der Fraktionsklausur festgestellt worden ist: „Wir sind bisher hinter unseren Möglichkeiten, aber auch hinter den Wünschen und Erwartungen zurückgeblieben. Das haben alle so gesehen“.

Abschied nehmen sollte man zudem auch ganz schnell von einer gefährlichen Naivität, vor allem dem eigenen Milieu gegenüber: "„Das Maß an Anfeindungen und Unterstellungen, das einem entgegenschlägt, hätte ich nicht für möglich gehalten“, sagt Pavel Mayer. Und ein anderer Abgeordneter formuliert: „Es gibt an der Basis ein regelrechtes Feindbild namens Fraktion“. Komme er nach einem Zehn-Stunden-Tag im Abgeordnetenhaus eine halbe Stunde zu spät zu einem Parteitreffen, heiße es bloß: „Na, lässt sich der Herr Abgeordnete auch mal wieder blicken?“" Hier überrascht zu sein ist im harmlosesesten Falle naiv, im schlimmsten Falle jedoch schlicht dumm.

Wie gesagt: wer die Szene kennt, den dürfte dies gerade nicht überraschen. Wenn ich auf Konferenzen und Panels für eine transdisziplinäre Zusammenarbeit von z.B. Techniker, Juristen und Sozialwissenschaftlern werbe, werde ich desöfteren rüde angeblafft, ob mein "Gerede von der Zusammenarbeit" nun bedeute, daß alle Informatiker und Techniker noch "Sozialarbeit studieren" müßten, um "vernünftig" mit "Nicht-Nerds" zusammenarbeiten zu können. Dieser Sarkasmus zeigt bereits deutlich das Problem: es würde ja schon reichen, daß man dem Gegenüber zuhört und sich auf diesen Menschen und seine Ideen einläßt, sie diskutiert, Argumente abwägt. Aber selbst das findet in erschreckend vielen Fällen nicht statt.

Die letzte Wahl in Berlin ist nun gut zehn Monate her. Die Piraten dürften wohl nicht gerade wenige Wählerinnen und Wähler inhaltlich schwer enttäuscht haben, wie sie selber festgestellt haben. Und das wird sich auch nicht ändern, solange sich die Grundeinstellung der Abgeordneten nicht ändert. Denn der Nerd taugt nicht als Vorbild für die Gesellschaft und auch nicht als Gestalter derselben. Die Beweise haben die Nerds in diesem Falle selber geliefert.

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Geschrieben von

Stephan Humer

Stephan G. Humer

Promovierter Diplom-Soziologe u. Informatiker; Professor und Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie, Hochschule Fresenius Berlin; Koordinator Spitzenforschung, Netzwerk Terrorismusforschung e.V.

Stephan Humer

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