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Internet und Gesellschaft Welche Rolle spielen Kunst und Kultur bei der Digitalisierung unserer Lebenswelt?

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Neue Perspektiven
Neue Perspektiven

Bild: JUNG YEON-JE/AFP/Getty Images

Eine der häufigsten Fragen in Zusammenhang mit meiner Arbeit ist, warum ein Arbeitsbereich Internetsoziologie ausgerechnet an der Berliner Universität der Künste (UdK) angesiedelt worden ist. Nun, die Antwort ist eigentlich ganz einfach: weil man seinerzeit nur dort verstand, worum es inhaltlich gehen soll. Angela Merkel hatte im Jahre 2013 schlicht Recht, als sie sagte, daß das Internet „Neuland“ sei: Deutschland setzt sich inhaltlich signifikant weniger mit der digitalen Revolution auseinander als andere Länder. Und das war 2005, bei meiner Suche nach einer passenden Institution, logischerweise nicht anders, sondern freilich noch viel schlimmer.

Nur Professor Joachim Sauter, ein „Pionier der Neuen Medien“ und Leiter der Digitalen Klasse der UdK, erkannte die Sinnhaftigkeit meines Vorhabens und förderte sie nach Kräften. Letztlich bestätigte sich sowohl meine Hoffnung, einen passenden Ort für mein Vorhaben gefunden zu haben, als auch seine Entscheidung, mich zu unterstützen, wie sich heute – gut zehn Jahre nach den ersten Aktivitäten an der renommierten Kunstuniversität - zeigt: Die kreativ-transdisziplinäre Atmosphäre des Medienhauses der UdK mit den herausragenden Kolleginnen und Kollegen, den neugierigen Studierenden und ihren digital-sozialen Ideen bietet unbestreitbare Vorteile, die bei der Entwicklung neuer Gedanken, Theorien, Methoden, Ansätze und Experimente in diesem Bereich zum Tragen kommen.

Der wahrscheinlich bedeutendste Vorteil ist die Abwesenheit einer erstaunlicherweise immer noch weit verbreiteten Idee: daß das Internet zwar im Großen und Ganzen ein unerfreulicher „Misthaufen“ sei – man denke beispielsweise an Hetze gegen Flüchtlinge, Cybercrime und Terrorpropaganda -, aber auch auf Mist ab und zu schöne Blumen blühen und man deshalb ja auch mal Glück mit einem aufblühenden digitalen Angebot haben könne. Das ist auf jeden Fall eine fatalistische, ja defätistische, wenn nicht gar dystopische Sichtweise, die von uns, den Mitgliedern der Klasse, abgelehnt wird und wohl eher einem klassischen Kulturpessimismus zuzuordnen ist. (Die Geschichte vom ach so bösen Internet kennen wir schließlich alle.) Als Mitglieder der Digitalen Klasse stellen wir jedoch nicht Versuch und Irrtum oder das „Prinzip Hoffnung“ in den Vordergrund und resignieren nicht ob der Herausforderungen, die das Netz mit sich bringt, sondern nutzen erfolgreich kreative Methodik, wissenschaftliche Effizienz und künstlerische Effektivität. Nicht umsonst zählt die Digitale Klasse zu den weltweit erfolgreichsten Designklassen und Joachim Sauter zu den besten Designern der Welt. Seine Ideen sind gleichermaßen künstlerisch wertvoll wie auch gesellschaftswissenschaftlich anwendbar, so daß ein Denken über die Grenzen der Computerchips hinaus hier tägliche Übung ist.

Genau so ein anregendes und hochwertiges Setting braucht es meiner Überzeugung nach, wenn man innovative und wissenschaftlich vielversprechende Ansätze für die Analyse der Digitalisierung unserer Gesellschaft bekommen möchte, womit wir bei der Beantwortung der Frage angekommen wären, welche Rolle den Künsten im Zeitalter der digitalen Lebenswelt zukommt. Kurz gesagt: es ist auf jeden Fall eine ganz entscheidende Rolle. Denn die künftigen Perspektiven sind gemäß der Breite der Entwicklung und der Vielfältigkeit der Einflüsse extrem herausfordernd und bringen „klassische“ Analysewege sehr oft an ihre Grenzen. Es braucht neuen Input – und den kann besonders die Kunst bieten.

Die Kunst des digitalen Identitätsmanagements, eines besonders relevanten Schlüsselelements bei der erfolgreichen Gestaltung unserer immer digitaleren Lebenswelt, wird im Innersten gekennzeichnet durch ein Spannungsfeld. Einerseits braucht man klassische Herangehensweisen und Fundamente aus dem Bereich der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre und auch aus der Technikwissenschaft (wie beispielsweise das Verständnis von Code), andererseits ist die digitale Sphäre so exorbitant, dass man sich auch spontaner Heuristiken und gänzlich neuer Ideen bedienen muss, spielerisch, explorativ und kreativ (wie beispielsweise durch digitale Kunst und technische Gestaltung). Man braucht Präzision und Unschärfe zugleich, Vorrats- und Orientierungswissen, Regeln und Regelbruch, einen Rahmen und doch viel Freiheit. Dieses Spannungsfeld ist die Ausgangssituation, auf die drei entscheidende Schritte folgen, welche den Weg zur erfolgreichen Gestaltung digitaler Herausforderung aufzeigen können.

Die erste Aufgabe besteht darin, ein Bewußtsein für die Notwendigkeit digitaler Identitätsarbeit zu erreichen. Identitätsvorstellungen müssen vermittelt, die soziale gegenüber der technischen Komponente gestärkt und letztlich gleichrangig gestellt werden. Derzeit geben andere den Rahmen, die Regeln, das Tempo und die Trends vor: Wirtschaft und Politik. Einen nicht geringen Anteil an der gegenwärtigen Misere hat allerdings auch die Naivität der Nutzerinnen und Nutzer. Früher hatten wir ausschließlich analoge Verhaltensweisen, diese waren bekannt, etabliert, traditionell. Jetzt haben wir die digitale Komponente hinzubekommen, sprich: Digitalisierung als zusätzliche lebensweltliche Ebene, und da helfen rein analoge soziale Muster nur begrenzt – und in vielen Fällen gar nicht. Neues Lernen ist also Pflicht, auch wenn es schwerfällt und man gern dem bereits erwähnten Fatalismus verfällt - aus Unwissenheit, Angst vor den Herausforderungen oder auch schlicht Bequemlichkeit. Ganz und gar nicht schädlich ist dabei das kreative Schaffen von Reserven, da neue Anforderungen sowieso kommen werden. Wer also bereits vorher seine Fühler ausstreckt, wird später nicht unvermittelt ins kalte Wasser geworfen. Digitales Wissen muß nicht sofort „nützlich“ sein – es kann ganz im Sinne der allgemeinen kulturellen Bildung als Vorrat dienen, um später zur Anwendung kommen zu können. Proaktives Arbeiten, Denken und Experimentieren sollte deshalb eine Pflichtübung werden – und das gelingt am besten in einem kreativen Kontext, in dem das Neue Alltag und nicht Bedrohung ist.

Dabei ist nun die permanente Weiterentwicklung des Prozesses in Richtung konkreter individueller Problemlösung der notwendige zweite Schritt: So dürfen wir uns bei unserer Exploration nicht beeindrucken lassen von Tempo, Trends oder Emotionen im Digitalen – denn diese werden nicht ganz altruistisch befördert, sondern aus Gründen, die eben nicht primär unserer eigenen erfolgreichen Auseinandersetzung mit den Einflüssen der Digitalisierung dienen: Wünsche nach (Markt)Macht, Überwachung oder Kontrolle bilden hier die Grundlage. Ignoranz, Fatalismus oder Ablehnung helfen erneut nicht: Wir müssen proaktiv, neugierig, diszipliniert und prinzipientreu arbeiten. Ein Ansatzpunkt im Sinne der konkreten, problemlösenden künstlerischen Auseinandersetzung wäre beispielsweise eine Identitätskaleidoskopie: verschiedene Identitätseinflüsse werden gemixt und es wird aufgezeigt, welche Anregungen jeweils entstehen, ob man mit ihnen etwas anfangen kann, wo es Chancen und Grenzen gibt und wie ein individueller Identitätsmix aussehen kann. (Diese Idee ist in ähnlicher Ausprägung in der digitalen Welt bereits seit einiger Zeit bekannt: in Form der Remix Culture, der kreativen Veränderung, Erweiterung oder Neuerfindung von Videos, Soundsamples, Bildern und anderen Daten. Neu ist die hier erfolgte Ausdehnung auf unser Selbst.) Digital aktives Vorbild sein kennzeichnet gleichzeitig die Vollendung des zweiten Schrittes und den Übergang zum dritten und letzten Schritt.

Dieser Schritt ist gekennzeichnet durch das ultimative Ziel: individuelles wie kollektives Empowerment. Digitale Identitätsarbeit ist nicht einfach, sie bedeutet für Individuen wie Gruppen einen erheblichen zeitlichen, inhaltlichen und organisatorischen Aufwand. Das Internet ist erstens deutlich ausdifferenzierter, zweitens deutlich professioneller und drittens deutlich emotionaler geworden. Die Ausdifferenzierung bekommt jeder Mensch zu spüren: war das Internet 1995 noch weitestgehend auf WWW und Usenet beschränkt, so findet heute alles überall statt – das Netz ist ubiquitär. Die Professionalisierung macht knallhart klar: wir sind längst nicht mehr allein im Netz. Mit dabei sind heute beispielsweise die Unfriedlichen: sie betreiben Botnetze, die fremde Rechner kidnappen, verkaufen gestohlene oder gefälschte Kreditkarten zum Spottpreis, machen ihre Attentate öffentlich und betreiben Propaganda, die zuvor undenkbar gewesen wäre. Und sie rufen die auf den Plan, die ohne Zweifel den größten Einfluß ausüben und damit für das Emotionale, das Umstrittene des Netzes stehen: Politik und Wirtschaft. Noch bevor sich eine erfolgreiche digitale Kultur auf Basis einer freiheitlich-demokratischen Zivilgesellschaft entwickelt hat, wirken diese Akteure auf das Digitale ein. Oft mit wenig Feingefühl, aber viel „gutem Willen“. Doch gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut. Politik und Wirtschaft sind damit ein Beispiel für (erfolgloses) analoges Handeln im digitalen Raum. Auf sie kann man somit kaum setzen. Exploration und Handeln müssen folglich in Gestaltung münden. Bewußtwerdung und Vorbildhaftigkeit müssen in Empowerment und damit in Selbst-Gestaltung münden.

Die Herausforderungen sind groß, die Aufgabe erscheint gewaltig – hat sie überhaupt eine realistische Chance, bewältigt zu werden? Fest steht, daß heute, im Jahre 2015, immer noch keine digitale Kultur festgestellt werden kann, die ausreichend schlagkräftig ist, um die Gesellschaft insgesamt nach vorne zu bringen oder um zumindest einen Einfluß auszuüben, welcher dem Netz deutlich mehr positive Seiten abverlangen kann und mehr Selbst-Gestaltung zuläßt. Das Internet ist für viele Menschen lediglich Mittel zum Zweck: ein schneller Vertriebskanal, ein netter Plausch, ein billiger Kommunikationskanal. Sie haben immer noch nicht begriffen, wie revolutionär das Netz nicht nur immer schon war, sondern erst recht noch sein wird. Das allgegenwärtige Computing, die Digitalisierung so vieler technischer Geräte, Prozesse und Ideen und die darauffolgende Vernetzung, all dies ist derzeit nur diffus und kleinteilig erkannt worden und steht medienhistorisch betrachtet noch ganz am Anfang. Und das hat Folgen: denn wenn die in Jahrhunderten entstandenen sozialen Gepflogenheiten ohne nennenswerte Anpassung auch im Netz eingesetzt werden und die dringend notwendige Entwicklung von neuen Formen der Identitätsarbeit im Besonderen und der darauf aufbauenden sozialen Interaktion im Allgemeinen unterbleibt oder anderen überlassen wird, wird schlicht und einfach ineffizient, mit hohem Frustfaktor und viel Energieverlust gearbeitet – und höchstens reagiert, aber nicht agiert. Man gestaltet nicht, sondern wird gestaltet. Immer noch. Immer wieder. Und immer mehr.

Was wir dringend brauchen, ist mehr kulturell-digitale Forschung, Entwicklung und Weiterbildung, denn hier herrscht eindeutig der größte Mangel. Die wahren Herausforderungen liegen für die deutsche Gesellschaft nicht in Technik und Recht, nicht in Politik und Wirtschaft versteckt, sondern in der (digitalen) Kultur und dem individuellen wie kollektiven Umgang damit. Hier liegt die Möglichkeit, eigenes emanzipatorisches Handeln zu fördern, Identitätszwänge im digitalen Raum aufzuzeigen und zum Widerstand anzuleiten sowie differenziertes Denken zu ermöglichen. Und dabei brauchen wir mehr als nur die Adaption US-amerikanischer Erkenntnisse. Wenn wir nicht nur Kopisten und Mitläufer sein wollen, müssen wir hier proaktiv, professionell und fair kämpfen: Wir brauchen eine europäische Trendwende, die den Menschen im Mittelpunkt hat und nicht nur Überwachung oder blutleere Profitorientierung. Dahin muss die Reise gehen, und sie wird am besten vorbildhaft bewältigt durch gestalterisch aktive Menschen, die gleichermassen wissen und entdecken, lehren und selbst lernen, digital wachsen und Wachstum ermöglichen.

Nur wenige Generationen bekommen die epochale Chance, Gegenwart und Zukunft in diesem Maße entscheidend zu formen. Die Digitalisierung wird die Welt weiter umfassend verändern. Wir sollten darauf Einfluss nehmen. Es geht um Entdeckung, Handlung, Gestaltung. Genau das ist die Kunst.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stephan Humer

Stephan G. Humer

Promovierter Diplom-Soziologe u. Informatiker; Professor und Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie, Hochschule Fresenius Berlin; Koordinator Spitzenforschung, Netzwerk Terrorismusforschung e.V.

Stephan Humer

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