Technik ohne Tiefgang: Digitalisierung ohne eigene Inhalte

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Wer in Deutschland Technik entwickeln will, dem wird es leicht gemacht. Der Strukturwandel sorgte für Standorte und Subventionen, die Universitäten für leistungsfähige Ingenieure und Informatiker und die Bevölkerung für Technophilie und Konsumfreude. Höher, schneller, weiter – das ist in diesem Land ein gängiges Motto, natürlich auch im Bereich Internet.

Doch wohin die Reise inhaltlich gehen soll, das bleibt meist unklar. Schnellere Datenübertragung, mehr Bandbreite, mehr Mobilfunk? Gerne! Wofür? Keine Ahnung, denn ein Blick ins Netz beweist, daß Deutschland inhaltlich ein Internet-Entwicklungsland ist. Sämtliche Megatrends seit Beginn des Internetbooms – Google, Twitter, Facebook etc. – kommen nicht aus Deutschland, sondern aus den USA. Die digitale Kultur wird von anderen gestaltet, doch wir spüren die Folgen. Leider nimmt man die im Regelfall erst dann überrascht zur Kenntnis, wenn sie bereits ihre volle Wirkung entfalten.

Doch genau hier besteht der Nachholbedarf, denn die Diskussionsbeiträge und -ergebnisse der technischen und politischen Entscheider sind häufig äußerst dünn: Google Street View? Ein hysterischer Sommeralptraum. Facebook? Die Verbraucherschutzministerin meldet sich ab! Digitales Vergessen? Placebo-Technik der Saarland-Uni soll soziale Probleme lösen. Dabei wäre es vergleichsweise einfach, die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung zu berücksichtigen: Techniker müßten mit allen betroffenen Bereichen endlich ernsthaft interdisziplinär zusammenarbeiten. Bestehende Datenschutzkonzepte (Stichwort „Privacy by design“) müßten konsequent genutzt und permanent proaktiv an neue Entwicklungen angepaßt werden. Es müßte mehr Freiräume für Kreativität und Phantasie jenseits der Chipentwicklung geben, interdisziplinäre Zentren wie das Berkman Center der Harvard University, wo Netzinteressierte auf Rechts- und Sozialwissenschaftler, Literaten und Techniker treffen, mit ihnen zusammen Ideen entwickeln, die die Gesellschaft weiterbringen.

Technikanalyse ist nämlich kein Hemmnis, wie vielfach vermutet wird, sondern ein Asset. Wo kamen Google, Yahoo und Co. her? Aus Universitäten wie Stanford, die offen und proaktiv neue, wagemutige Projekte unterstützen. Sie entsprangen Ideen, die vergleichsweise wenig mit Technik und viel mit dem wahren Leben zu tun hatten. Denn Algorithmen lösen keine gesellschaftlichen Herausforderungen - das können nur Menschen mit Visionen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stephan Humer

Stephan G. Humer

Promovierter Diplom-Soziologe u. Informatiker; Professor und Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie, Hochschule Fresenius Berlin; Koordinator Spitzenforschung, Netzwerk Terrorismusforschung e.V.

Stephan Humer

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