Über den Rand der Literatur

Postmoderne Mircea Cărtărescu könnte bald die Schriftstellerei gegen die Prophetie tauschen: Der Nobelpreisanwärter glaubt, dass Außerirdische ihm die Feder führen

Wem Verschwörungstheorien zum 11. September gefallen, der stößt in Mircea Cărtărescus ZEN, seinem gerade auf Rumänisch erschienenen dritten Tagebuchband, auf fantastische Details: ein „riesiges dreidimensionales Hologramm“, einen „Vogel-Flugzeug-Cherub“, „leuchtende Kugeln“ um die brennenden Türme. Der bekannteste Vertreter der rumänischen Postmoderne und Nobelpreisanwärter, weltweit für seine schöpferische Fantasie gefeiert, entpuppt sich hier als Anhänger von Entführungen durch Außerirdische und von außerkörperlichen Erfahrungen. Die Bibel als „Saga der großen Kontaktaufnahme“, Heimsuchungen durch „Besucher“, ja exklusives Wissen um des Menschen und des Universums Schicksal: Cărtărescu könnte bald die Schriftstellerei gegen die Prophetie tauschen.

Noch aber dominiert die Nabelschau. Akribisch vermerkt er Ängste, Depressionen, vermeintliche körperliche Gebrechen, Träume, Selbstzweifel. Er hält paranoide Anwandlungen fest (so vermutet er im Brief eines Unbekannten Anthrax und schaltet die Polizei ein), Sinnestäuschungen im Wachzustand und hypnagogische Zustände. Da ist keine Ich-Überwindung, im Gegenteil: Angst vor dem Altern veranlasst den Meister, sich graue Haare auszureißen, unbezwingbarer Ehrgeiz, zu befürchten, womöglich nicht mehr als Literaten-Alpha-Tier zu gelten, Eitelkeit, das „Edelstahlgeländer“ in seiner neubezogenen Villa zu erwähnen.

Dabei befand sich Cărtărescu offenbar lange in einer Schreib­­­blockade, die er nur ein Mal durchbrach, als er 2006/2007 auf Schloss Solitude in Stuttgart mal „in Trance“, mal „ohne Inspiration“ ein Buch verfasste.

Sprudelnde Quelle tröpfelt noch

„Ich bin nicht mehr in der Literatur.“ Dieser oft wiederholte Satz im Tagebuch bezieht sich nur vordergründig auf den Literaturbetrieb. Die „Literatur“, das ist für Cărtărescu ein Gnadenzustand, eine andere, wundersame Realität, die sich vor allem in Träumen offenbart. Ständig jagt er ihnen deshalb hinterher. Dabei ist die Grenze zur Vision durchlässig, wenn ihm ganze Landstriche erscheinen, an deren Wirklichkeit er nicht zweifeln will.

Nun, diese früher sprudelnde Quelle tröpfelt jetzt nur noch. Cărtărescu hat eine sehr interessante Erklärung dafür. Obwohl sein einzig mögliches Thema freilich „jetzt und ewig ich selbst“ ist und er seine Bücher für die „Brocken“ seines Lebens hält, empfindet er sich beim Schreiben als „Medium“ einer fremden Macht, die durch ihn agiert. Er schreibt sozusagen „nach Diktat“. Diese Macht, die auch seine Träume generiert, „liebt jetzt einen anderen“. Deshalb strömen die Visionen nicht mehr so mühelos aus ihm heraus, deshalb kann er nicht mehr nach Herzenslust fabulieren.

Nun ist Cărtărescu nicht der erste Schriftsteller, der sich mit den Mysterien der Kreativität und der brüchigen Urheberschaft, der prekären Autorenschaft, seiner Texte quält. Selbst ein Gottfried Benn spricht von präformierten Bildern und Inhalten, und die Frage: Was ist ein Autor? gehört seit Michel Foucault zum schweren Gepäck des postmodernen Dichters. Geklärt ist sie nicht. Ebenso bleibt offen, wie das Urheberrecht in Fällen greift, in denen der wahre Autor eines Werks vermutlich ein Außerirdischer ist.

Ioana Orleanu lebt in Bukarest und beobachtet für den Freitag Rumäniens Kulturlandschaft. Von Cărtărescu ist jüngst der zweite Teil seiner Orbitor-Trilogie Der Körper im Paul Zsolnay Verlag auf Deutsch erschienen.


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