Der Geruch von Freiheit und Nivea

Ostwärts Nach dem Fall der Mauer ziehen mächtige Demonstrationen durch Prag und Bratislava. Eine slowakische Emigrantin reist zurück in die samtene Revolution

Abend für Abend wälzt sich das Glück über den Fernsehschirm. Ein skandierendes. Es schwillt an. 2.000, 5.000, eine Million in Prag. Für mich in meiner Basler Wohnung ist es die längste Woche der Emigration. Wo ist der Ausweg aus diesem Monolog vor dem Fernsehen? Dubček spricht in Bratislava auf einer schnell aufgerichteten Tribüne. Alles war schon einmal da, Dubček hat dasselbe breite Lächeln. Damals, 1968, nachdem Dubček von den Fernsehschirmen verschwunden war, nach der Zerschlagung des Prager Frühlings, flüchteten Hunderte, Tausende über den Eisernen Vorhang. Darunter auch ich.

In den letzten Jahren hatte das Heimweh eine Dauerbleibe in der Ferse bekommen. Auf einmal beginnt die Ferse zu kribbeln, sie war eingeschlafen, nun strömt das Blut zurück. Karel, ein tschechischer Freund in Basel, ruft an: „Wir müssen etwas tun.“

Zum ersten Treffen kommen so viele, dass keine Kneipe uns aufnehmen kann, wir belagern den großen Saal eines McDonald’s Restaurants. „Dieses Symbol des Kapitalismus ist ein unwürdiger Ort für einen historischen Augenblick“, meint jemand und ein anderer kontert: „Unsere Geschichte war schon immer tragikomisch.“ Eine zufällige Ansammlung von Frauen und Männern, die sich kaum kennen. Zögernd, fast zärtlich, sprechen wir zueinander in unseren wiederentdeckten Sprachen. Einer spricht die stumme Befürchtung aller aus. „Sie machen die Revolution ohne uns.“ Ein anderer sagt: „Ich habe mit dem Prager Bürgerforum telefoniert. Sie brauchen ein Faxgerät.“ Der leisen Stimme folgen Banknoten, entschlossen herausgenommen, zerknüllt drehen sie sich in der Luft, in eleganten Bögen fliegen sie, in ihnen fliegen unser Schuldgefühl und unsere wiederentdeckte Liebe mit, fliegen die Vorboten unserer selbst. Auch Bratislava und Košice brauchen Faxgeräte. Innerhalb von drei Tagen ist das Geld für drei Geräte bereit.

In den folgenden Tagen ist das Telefon unser Partner, unser Ventil. Noch sind die Grenzen dicht. Wir sammeln Unterschriften für eine eilig ausgearbeitete Resolution, die die Aufhebung des Gesetzes über die Republikflucht und freie Einreise für Emigranten fordert, aber die Ereignisse überstürzen sich. „Hast du das Neueste gehört? Die tschechoslowakische Botschaft erteilt uns ein Visum.“

Im Dezember 1989 ist im Warteraum der tschechoslowakischen Botschaft von Bern ein fröhliches Gedränge. Die Viertelstunde Warten, nachdem ich den Schweizer Pass abgegeben habe, gehört den Zweifeln einer Ungläubigen. Dann, an der Sonne, betaste ich den Visumstempel mit den Fingern.

Der Koffer ist gepackt. Mariana bringt mich zum Flughafen

Die Koffer sind gepackt. Vor Ladenschluss kaufe ich einen dunkelgrünen, langen Mantel im Stil der russischen Revolutionäre. Ich fahre in die Revolution. Die Slowakin Mariana bringt die behutsam eingepackten Faxgeräte zum Flughafen und sagt: „Es ist, als würde ich mitfahren.“ Ich fühle mich ein wenig wie James Bond mit Spezialauftrag. „Sag ihnen, dass wir ihre Schuldner sind, die nur gerne ihre Schulden zurückzahlen möchten“, trägt mir der Tscheche Richard auf.

Im Flugzeug schaut sich der beleibte Steward bloß flüchtig die Bordkarte an. Sein Blick bleibt ohne Umschweife an meinem Busen hängen. In der Flugzeugtoilette duzt eine Anschrift die Passagiere auf tschechisch: „Drücke den Hebel hinunter!“ Brüchig ist das dünne Plastik auf den Klapptischen, schäbig sind die Sesselüberzüge, vergilbt die Polyestervorhänge, die Nahtstellen an den Wänden bilden unregelmäßige Rinnsale. Der Übergang von ­Zürich nach Prag beschäftigt zunächst die ­Sinnesorgane. Die Wahrnehmung der Beschaffenheit der Hülle: Glatt, glänzend, geebnet ist die Hülle in der Schweiz. Gut geschützt der Inhalt. Gut bezahlt die Fassadenbauer. Aus dem Mund wohlüberlegter Anstand. Nicht angreifbar. Die Flugstunde ist ein drastisches Bremsen der galoppierenden Euphorie der letzten Tage. Der Rhythmus stockt, eine neue Melodie wird zaghaft eingeübt.

Ankunft in Prag: ein Kulturschock. Flüsternde Menschen, die leise auftreten, als hätten sie keinen Erdkontakt. Welche Mutation haben sie durchgemacht? Verkommen ist Prag, stöhnt, geduckt unter dem gelblichen Smog. Es atmet sich schwer, wie in einer Riesenhalle, wo rund um die Uhr böhmisches Glas für den Export geschliffen wird. Demütig schluckt man Glasstaub. Die ersehnten Revolutionäre tragen dicke, graumelierte Pullover. Sie sehen darin aus wie Wesen mit ungekämmten, vor Kälte abstehenden Fellen, sie riechen nicht nach der Wildnis der Revolution, sondern nach Mamas Küche. Wie großartig, dass es laute Demonstrationen gibt.

„Eine Dame aus der Schweiz ist da. Wir müssen sie gut unterbringen“, sorgt sich Ivana und führt mich in die Oase ihres Heims mit dem Gebot der Reinlichkeit und Ästhetik à la Schöner Wohnen. Im Badezimmer stehen wie Schutzengel des Hauses farbige Produkte westlicher Marken für die Körperpflege: Nivea-Crème, Schwarzkopf-Schampoo, Jana-Lotion. „Mein Mann hat sie mir vor acht Jahren aus Deutschland mitgebracht. Sie sind längst aufgebraucht, ich fülle sie nach mit einheimischen Substanzen. Ich habe es gerne schön.“ Ivana hat Potemkinsche Dörfer gebaut, sie ist zur Anbeterin fremder Götter geworden. Ist ästhetischer Genuss ein Menschenrecht? Mittelosteuropa vermutet unter dem Hochglanzpapier Würde, Schönheit, Leben an sich. „Wir haben die Welt nicht gesehen. Dafür ist alles für das Heim.“

Intensives häusliches Basteln ist eine neue mittelosteuropäische Tugend geworden. Es war die Einspurbahn für vielfältige Talente. Meine Generation hat den Rückzug ins behagliche Private angetreten. Fenster zu, draußen herrschte die hässliche Hydra. In der Emigration besuchten mich Landsleute, die wie ein einziger Mund an ihrem großen Thema herumkauten: „Wieder gibt es kein Toilettenpapier, hygienische Binden kriegt man nur durch Beziehungen, die Steaks sind mit Speck durchzogen, die gute Qualität wird ja exportiert …“ Nur eine Cousine sagte unverblümt: „Roter Terror. Zum Kotzen sind ihre Lügen.“ Schon wollte ich mit der echt Leidenden mitfühlen, doch gleich sie klagte weiter: „Seit Jahren finde ich kein weißes Spray, um einen Kratzer an meiner Waschmaschine zu überspühen.“

Der monotone Redefluss der Belanglosigkeiten meiner Landsleute übertünchte das Wesentliche. Die schwere Klage, die es jetzt mit dem Sprengen der Dämme an die Oberfläche spült: Wir wurden um das Leben betrogen. Die Gefängnisterminologie drängt sich auf. Man spricht vom Westen als vom „Draußen“. Die Freiheit bedeutet, nach „draußen“ gehen zu können und nach den Maßstäben dieses „Draußen“ leben zu können.

Das mittelosteuropäische Gesicht war nur für den Westen osteuropäisch, immer blickten seine Augen Richtung Westen. Der Westen, eine kokette Primaballerina, brauchte die Augen der anderen Welt höchstens zur Selbstbespiegelung. Jetzt hält der Westen inne, dreht sich Richtung Mittelosteuropa um, wird für eine Weile zum Publikum, das verzückt klatscht. Ein freundliches, charmantes Lächeln für die Mittelosteuropäer, die man auf einmal ohne Stacheldraht und Mauer besser sieht, die den Westeuropäern frontal, schon immer liebend zugewandt standen.

Ich stelle das Faxgerät vor Honza hin, den Pressechef des Prager Bürgerforums. Er, von Beruf Journalist, durfte wie viele dieser Intellektuellen aus dem Bürgerforum, nur als Heizer arbeiten. Ich überbringe ihm die Botschaft: „Wir sind in Eurer Schuld…“ Er winkt ab: „Wir sind es, die in Eurer Schuld stehen, weil wir nicht schon früher versucht haben, alles zu tun, damit Ihr zurückkehren könnt.“ Honza spricht stolz vom Streik der Künstler und Künstlerinnen vom Nationaltheater. Auf dem Wenzelsplatz sind überall Plakate und brennende Kerzen. Ich glaube es langsam: Die Tschechoslowakei wird frei. Parolen, die hier einen lebendigen Inhalt haben: Freiheit, Demokratie, Pluralismus, Wahrheit, Gewaltlosigkeit, samtene Revolution, vereintes Europa … Ein Plakat gibt Anweisungen zum Dialogführen: Nicht emotional werden, den Gesprächspartner als Person nicht ablehnen, sich Zeit nehmen. Im Bürgerforum ist das Dialogführen schon Wirklichkeit. Eine am Telefon diensttuende Studentin geht mit Engelsgeduld auf die Vorwürfe der aufgebrachten, schlecht informierten Menschen ein.

Fahrt in die Slowakei. Hier heißt die Revolution „sanft“. Ich irre durch Bratislava. Die Stadt erscheint wie zerbombt von Schlamperei und schlimmstem Mittelmaß. Ich finde einen Ausweg und verwandle mich von einem sehenden zu einem hörenden Wesen. Die Begegnung mit der Muttersprache nach über zwei Jahrzehnten ist eine Wonne. Ich spreche viel, egal worüber, angezogen vom Mut der slowakischen Sprache zur Weichheit.

Im Bürgerforum in Bratislava, das dort „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ heißt, übergebe ich das Faxgerät einer Schlafwandlerin. „Seit einem Monat schlafen wir nicht mehr“, erklärt Hana. Eine fieberhafte Tätigkeit herrscht in den Büros, in den Gängen. Eine Demonstration wird vorbereitet. Zwei Tage später wird der Stacheldrahtzaun bei Bratislava niedergerissen. Ein Witz geht herum: „Ich fahre zum Kaffeetrinken nach Wien. Ich nehme eine Thermosflasche mit und trinke dort daraus.“

Am Flughafen in Košice holen mich ein ehemaliger Arbeiter mit steifem Bein und eine Studentin ab. „Im Bürgerforum arbeiten Studentinnen, Künstler und Invalide. Wer sonst hat denn Zeit?“ sagen sie. Dorffrauen in ostslowakischer Tracht in kurzen, krinolinenartigen, plisierten Röcken und einer schwarzen Kopfbedeckung kommen aus ihren Dörfern ins Bürgerforum, bringen Eier, Brotlaibe, weinen und erzählen, was ihnen die „kommunistische Mafia, die roten Feudalherren“ – so nennen sie die untergehende Herrschaftsklasse – angetan haben. In der Ostslowakei, diesem Sizilien der Tschechoslowakei, haben die kommunistischen Familienclans die Macht immer noch fest in den Händen, schüchtern die reformwilligen Bürger in der Provinz ein. Prophetisch verkündet ein Transparent: „Am schwersten wird es sein, die Denkmäler in unseren Hirnen umzustürzen.“

Wir faxen Havel nach Bratislava. Havel kommt an

In Košice ist das Faxgerät mehr als ein Kommunikationsmittel, um die Aktionen mit Prag und Bratislava zu koordinieren. „Kam unsere Welle bis zu Euch? War sie wirklich so groß?“ „Eine Flutwelle war das“, bestätige ich freudig. Nun gehört Košice zur Welt. Wie gut, dass das Gerät nagelneu ist, dazu ist es noch das neueste Modell. Unwichtig, dass die Automatik nicht voll ausgeschöpft werden kann und dass das Modell im tschechoslowakischen Telefonnetz noch unzulässig ist. Ein Porträt von Václav Havel wird als erste Faxprobe nach Bratislava geschickt. Havel kommt an. Danach wird das Gerät in einem Sonderzimmer eingeschlossen.

Nach meiner Rückkehr nach Basel eile ich zur Sitzung unserer Gruppe. Erst zwei Wochen sind vergangen, und aus der „Auswahl von Sensiblen“ sind tüchtige Pragmatiker geworden, die eine Art Transportunternehmen mit Fotokopier- und Druckmaschinen auf die Beine gestellt haben. Alle sind sachlich. Es wird gearbeitet. Auf dem Konto „Für eine freie Tschechoslowakei“, hat man genug Geld für zwei Computer gesammelt. Computer braucht man für die Vorbereitung von freien Wahlen.

„Sind wir, die Emigranten das zukünftige ,Ich‘ Mittelosteuropas? Sind wir, die von ihnen abstammen und im Westen Fuß gefasst haben, Garanten dafür, dass auch sie es schaffen werden, die Demokratie, den Reichtum? Hast du sie dort gesehen, diese Hoffnung?“, fragt der Slowake Milan, ein Ethnologe. „Sie sagen, in zehn Jahren werden sie den Westen einholen.“ Milan lacht. „Sie haben eine neue Utopie gefunden.“

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