Der Stein reibt sich am Stein

Unterwegs in Mittelosteuropa Auf Schritt und Tritt triumphiert das Unberechenbare

Der Fahrer des Busses Wien-Bratislava schließt vor mir die Tür, klopft mit dem Zeigefinger auf die Uhr und fährt davon. Ich bleibe zurück auf dem Busbahnhof Wien-Mitte, füge mich ins Unvermeidliche. Nach ein paar Metern hält der Bus jedoch an, der Fahrer steigt aus, gestikuliert und ruft mir auf Slowakisch unwirsch zu: "Na, kommen Sie schon, aber schnell!"

Während er meinen Koffer verstaut, schimpft er, doch schon weist er mir den Platz in seiner Nähe an. Er ist sichtbar leicht geworden - das auf ihm lastende System hat er zugunsten eines Schöpfungsaktes abgeschüttelt. Geübte Hände umarmen das breite Steuer, der Bus fährt geräuschlos ostwärts, und mein Landsmann erzählt von Straßen und Unfällen. Schon bin ich in ein Familiennetz geraten, nicke und nicke.

Als nach der österreichisch-slowakischen Grenze die abbröckelnden Häuser von Bratislava auftauchen, Abfälle in den Straßengräben liegen, aus denen wie aus archäologischen Funden das Leben der Bewohner ablesbar ist, zuckt mein westlicher rationaler Überbau zusammen. Hier breitet sich die Freudsche Fehlleistung aus, die Fassaden des Über-Ichs werden mit Rissen verspottet, aus denen das ewige, ungezügelte Es herausbricht, sich ins Bewusstsein drängt. Der hinzu gekommene Westen in mir will alles zumauern, reparieren, mit Glanz übertünchen, das Unvollkommene im Zaun halten.

Ein Alkoholiker äußert den Wunsch, mausetot zu sein

Auf den Gehsteigen stolpere ich über Asphaltbeulen, die harte Masse bläht sich zum Hohn der Festigkeit auf, diese widerborstigen Pilze in Grüppchen und allerlei Wulste und Spalten mahnen an eine unzähmbare, unterirdische Kraft. In dieser Region kann man nicht mechanisch dahergehen, sich Gedanken über Höheres oder Vernünftiges hingeben, im Verlass auf eine ebene Unterfläche. Man kann und darf sich nicht von den unteren Schichten abschneiden. Auf Schritt und Tritt triumphiert das Unberechenbare. Diese Gesellschaft hat es nicht darauf abgesehen, sich auf einen Kampf mit ihm einzulassen, es unter den Asphalt oder hinter die Fassaden zurückzudrängen. Man lässt ihm freien Lauf, furchtlos, nachlässig, erhebt den Verfall zum Hauptattribut des Lebens. Die unbewussten, die emotionalen Inhalte greifen mit ihren fettigen Fingern nach dem Über-Ich, reißen jedes etablierte System hinunter, zertrampeln seine Regeln. Das hiesige Öffentliche hechelt ergeben in der Umarmung des Privaten.

Wie war es in Wien? In der Mariahilfestraße spricht mich ein junger Obdachloser an, mit einem Lächeln aus Hochglanzmagazinen schildert er, dass er auf Entzug sei und eine Arbeit suche. Wir schauen uns auf derselben Höhe in die Augen, sein Gesicht drückt Zuversicht aus, und ich glaube ihm kein Wort. Seine Strategie ist vorzugaukeln, dass er sein Leben unter Kontrolle habe, und dafür verlangt er von den Mitmenschen eine Belohnung. Und es zahlt sich aus, gern investiere ich in ihn zwei Euro.

In Bratislava sitzt in der Fußgängerzone am Boden ein älterer Obdachloser, ich muss mich zu ihm hinabbücken, um ihm eine Note zu schenken. Er schlägt sich auf den Kopf: "Du blöder Grind", schimpft sich einen Alkoholiker, äußert den Wunsch, mausetot zu sein. Weil er der allerletzte Idiot sei, habe er alles verloren, die Arbeit als Fernfahrer, die wunderschöne Frau, deren Hintern er jetzt täglich aus Reue ablecken würde. Er appelliert ans unreflektierte Mitleid, kalkuliert, dass sich angesichts des Unglücks eines Anderen selbsttätig der Geldbeutel öffnet. Ich provoziere ihn, die Sache umzukehren und die Lage als das Ergebnis seiner Entscheidungsfreiheit zu beurteilen: "Ich lebe eben so und habe meine Vorteile davon. Ich bin stolz auf mich".

Er verjagt mich mit Worten: "Frau Doktor, während Sie auf mich so klug einreden, sind schon viele Passanten vorbeigegangen. Ich muss noch heute Abend mein Bier haben."

Zielbewusst schreite ich mit durchgestrecktem Rücken, so erreiche ich den Bahnhof von Bratislava, wo zwielichtige Gestalten herumwanken. Wenn der Boden wankt, ist das eigene Wanken eine stabilisierende Art des Gehens. Ich wirke an jenem Bahnhof, den ich 1968 als 18-Jährige in Richtung Westen verlassen habe, so, als hätte ich nicht eine dahintreibende Eisscholle unter den Füßen, sondern einen Kontinent für mich allein. Das fällt auf. Der Zug fährt ein, und ich laufe in die weiß leuchtende Falle hinein. Als sich eine Menschenmenge in die Zweite-Klasse-Waggons hineindrängt, steige ich als Einzige in den leeren Waggon mit weißen Überzügen. Im Gang vor den gähnenden Abteilen ist auf einmal hinter mir eine Fülle spürbar. Als ich mich umdrehe, blicke ich einer Jugendlichen ins Gesicht, die den Hals streckt, die Augen aufreißt, als spähe sie nach imaginären Verwandten - ein dick aufgetragenes kosmetisches Bleichmittel auf der Haut soll über die rot sprießenden Pickel hinweg täuschen.

Das Mädchen ist auf einmal weg und mein Geldbeutel ebenfalls. Ein gutmütiger Polizist nimmt die Aussage zu Protokoll. Seine Versprechen bleiben vage, die Verletzung der Schutzhülle eines Anderen hält er für eine Normalität, mit der er sich arrangiert hat. Er zeigt mir seinen Alltag - Frauengesichter auf dem Bildschirm, ein Panoptikum aus verschlagenen, psychisch kranken Gesichtern, meist früh gealterte Roma-Frauen, eine erschlagende Fülle vom sichtbaren Kollaps der Selbstkontrolle. Als Amtsperson bleibt er untätig, dafür schließt er die Reißverschlüsse an meinem Koffer, bevor er mich, ein gütiges Familienoberhaupt, in die Welt entlässt.

Der Taxifahrer stellt sich einen Fall aus einer großen Höhe vor

Ich nehme den nächsten Zug nach Budapest und komme ins Gespräch mit einer klagenden ungarischen Mitreisenden, der ich vom Diebstahl erzähle. In ihr erwacht die Fürsorge, sie übergibt mich in Budapest wie ihre leibliche Schwester einem Taxifahrer, dem sie das Wichtigste mitteilt - dass ich beraubt worden sei. "Es war sicher viel Geld drin", sagt er verträumt, stellt sich einen Fall aus einer großen Höhe vor. Nun sind wir beide auf derselben Tiefe. Von der Polizei hält er nichts: "Die sind alle korrupt". Das Über-Ich ist außer Kraft, es gehorcht dem amoralischen Es, so glaubt das gebeutelte Volk. Für das Beraubtsein, ob ein einmaliges oder lebenslanges, bekommt man als Kompensation mitmenschliche Wärme, als Utopie gilt - bei der Obrigkeit auf sein Recht zu pochen.

Eine Westberlinerin, die an einer Budapester Universität lehrt und an einem Über-Ich-Komplex leidet - ein Leiden, das im Westen durchaus zur Gesundheit gehört - kommt mit der hiesigen Entwertung dieser Instanz nicht zurecht. Die ständigen Verschiebungen der Regeln, das Unstete auch im Kleinen bedrohen in ihren Augen die Zivilisation schlechthin und ihre Person als erste. Da will ihr die Verkäuferin heute kein Pfand für die Bierflaschen auszahlen, obwohl es gestern noch möglich war, da behauptet die Kassiererin in der Wechselstube, dass sie keine Forint habe, dabei stellt sich heraus, dass in der untersten Schublade welche liegen. Die Gepflogenheiten verlangen, zäh zu verhandeln, sich Zeit zu nehmen, das Anliegen hart werden lassen, Stein am Stein zu reiben, damit der Funke von Mensch zu Mensch überspringt, dank dem die Dinge Feuer fangen und auf einmal schnell und im Überschwang geregelt werden.

Abends zieht sich die darin Ungeübte in ein Altstadt-Restaurant zurück, wo sie vom Chef persönlich empfangen wird. Ohne sein angelerntes postkommunistisches Lächeln würde man den Besitzer, einen Muskelpaket-Jungunternehmer, für den Rausschmeißer halten. Doch die Dozentin trinkt durstig die formelle Freundlichkeit, die ist ihr sicher, Abend für Abend, die muss sie nicht aushandeln, die kauft sie sich. Hier in diesem Restaurant mit gestärkten Tischtüchern und nach der Art japanischer Blumensträuße arrangierten Gerichten ist die Oase jener, die sich nach Budapest verirrt haben, hier sind sie unter sich, behaglich, gesättigt, unter der hohen Decke, berieselt von gedämpfter Musik, umschwirrt vom jungen Personal, das noch ungelenk das Buckeln übt. Die üppige, scharfe ungarische Küche ist hier verwässert, überall Leichtkost, auch im Umgang.

Dann tritt die Dozentin auf die gefährliche Straße, auf dem Zebrastreifen wird sie fast überfahren, im Hausflur wühlt im Abfalleimer einer der angeblich 50.000 Budapester Obdachlosen, die aus den undichten Stellen der Metropole kriechen, und sie schließt die Augen, tastet sich angeekelt durch. Ins Gellert-Bad mit ornamentbeschmückten Säulen, mit einem sich öffnenden Glasdach, mit Wasserstrahlen, die Marmorlöwen auf die verkrampften Schulterblätter ausspucken, dort geht sie nicht hin. "Das entspricht nicht den westlichen hygienischen Standards". Geht ihr die Vermischung mit Sekreten anderer zu nah, braucht sie Chlor, eine dritte Substanz, zur Wahrung der Distanz? Aus den Läden grinst ihr in der Fußgängerzone die Kommerzgrimasse zu. "Das ist nicht mein verfeinerter Westen, das ist vulgär". Sie sucht hier ihren Westen und findet bloß seine Fratze. Über jede Lappalie hält sie ein Vergrößerungsglas, und das gewöhnliche Plätschern eines mittelosteuropäischen Alltags wird zur Flutwelle. Das wendige Es hat die Verzweifelte schon eingeholt, es liebt schadenfreudig ihr tägliches Versagen, während sie sich hoch über der Donau auf ihr Über-Ich-Ross schwingt.

Der Schweizer Botschafter besucht einen Roma-Kindergarten

Aus der Vermählung des Über-Ichs mit dem Es schlüpft ein Ich heraus - das neue vereinte Europa, das - um gesund zu bleiben - nach Freud die Aufgabe hat, das Über-Ich und das Es im Gleichgewicht zu halten, keines zu bevorzugen oder in den Schatten zu stellen, die Dominanz des Über-Ichs aufzuweichen und dem Weg-Geschwemmt-Werden durch das Es Einhalt zu gebieten. Ich frage mich: Ist das vergebliche Mühe, das - was sich nicht erfassen lässt - mit Hilfe einer Theorie einzuordnen? Genau das Gegenteil ist doch durchaus möglich.

Der Schweizer Botschafter in der Slowakei erzählt, wie er einmal über den selbst projizierten Abgrund hinweg am anderen Ufer wohlbehalten ankam. Als er einen Roma-Kindergarten in der Ostslowakei besuchte, wollte er gleich die Flucht ergreifen, in der unerträglichen Vorstellung, die Ärmsten der Ärmsten würden sich auf seine Geschenke stürzen. Doch das für den Schweizer bedrohliche Chaos fand nicht statt. Die Kinder haben mit einer vornehmen Zurückhaltung seine Päckchen schweigsam beäugt und vorsichtig berührt, aber nicht ausgepackt.


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