Matuschka Rossija und ihr Sohn

ARCHAISCHE GESCHLECHTER-SYMBIOSE Ein Politmärchen über Russlands Krieg in Tschetschenien

Es gibt ein slawisches Märchen von der Mutterliebe einer Frau, die ihren Sohn in Selbstaufgabe dermaßen verwöhnt, dass dieser keinen anderen Weg findet, um sich von ihr zu lösen, als sie mit der Axt zu töten. Als er den ersten wankenden Schritt weg vom Mutterhaus in die Welt hinaus tut, stolpert er über ihren abgehackten Kopf, fällt hin, und der Kopf fragt: "Mein Söhnchen, hast du dir weh getan?" Die Mutterliebe ist unsterblich, kopflos überdauert sie als Dogma alles. Das Söhnchen leckt nun Blut statt Milch, nährt sich daran und steht nicht auf. In einer noch viszeraleren Variante reißt der Sohn das Mutterherz heraus, das sich weiterhin um sein Wohl sorgt. In dieser zweigeschlechtlichen Märchenlandschaft gibt es weder eine Frau - die Mutter existiert nur durch die Sohnespossession - noch die Hoffnung auf einen Mann - die blindwütige Durchtrennung der Mutter führt nicht zu einer Trennung von ihr. Diesen Dual-Autismus sehe ich auch als das gesellschaftlich-politische Fundament Russlands. Hier geschieht keine Interaktion zwischen zwei voneinander getrennten Zentren, man ist gefangen in jener archaischen, unaufgelösten Symbiose zwischen der Mutter und ihrem erwachsenen Sohn. In der zähflüssigen Ursuppe ziehen das Private und das Öffentliche Fäden und Fehden.

Der russische Sohn kommt nach Tschetschenien, abkommandiert vom Mütterchen Russland als 19-jähriger Soldat oder als krimineller Söldner. Verlaust, hungrig, in mythischer Angst vor den "bösen" Tschetschenen schießt dieser Sohn im Wodkarausch um sich, und auf der Suche nach Geborgenheit findet er einen Mutterersatz. Am Kontrollposten bettelt er schamlos tschetschenische Bäuerinnen an, deren Häuser er in Brand gesteckt hat: Mütterchen, gib mir Milch, Tantchen, hast du nicht ein Stück Brot, Frau, für eine Flasche Wodka lasse ich dich durch. Die Tschetscheninnen erzählten mir schon im letzten Krieg solche Episoden von ihren kindlich-sadistischen Besatzern. Und sie rücken die Milch, das Brot heraus, das sie ihren Kindern vom Mund weggenommen hatten. Nicht aus Angst, vielmehr demonstrierten sie dadurch das Recht auf ihre nationale Eigenart, sie befolgten das Gebot der Gastfreundschaft, das im Kaukasus als höchster Wert geachtet wird. Sie sagten: "Wir begeben uns nicht auf das Niveau des Feindes hinab. Wir sind anders." Ihre nährende Haltung war nicht Selbstaufgabe, sondern Widerstand. Für die Tschetschenin mag diese Mütterlichkeit tatsächlich zur kulturellen Selbstbewahrung beitragen, dem Besatzer bestätigt sie sein Weltbild, dass die Mutter allgegenwärtig ist und sich um ihn sorgt, egal, was er ihr auch antut. Er braucht sich nur als mitleiderregendes Opfer darzustellen, wofür er sich ja auch hält. Seine "mütterliche" Regierung belässt ihn ebenfalls in der Annahme, dass er kein Täter ist, das heißt, nicht losgelöst von ihr durch eine zu verantwortende individuelle Tat. Für die Gräueltaten an der tschetschenischen Bevölkerung wurde weder im letzten noch in diesem Krieg irgend ein Soldat verurteilt.

Wladimir Putin, der neue Mann Russlands, zeigt sich auch als der missratene Sohn, der um sich schlägt, um ein Kerl zu werden. Matuschka Rossija hätschelt ihn, nicht trotz des Blutbades in Tschetschenien, sondern gerade deshalb hat sie ihn gewählt, stolz darauf, dass ihr schmächtiger großer Junge eigenhändig einen Bomber in die Ruinenstadt Grosny steuert, in die Steinzeit, die sein Werk ist. Je schuldiger er wird, umso mehr gehört er ihr. Die Zerstörung wirkt zwar auf den Sohn wie eine Loslösung, wie befreiende Manneshärte, wenn durch die Trümmer ein Luftzug geht, aber je größer die Blutlache, umso klebriger seine Abhängigkeit. Die Selbständigkeitsbestrebungen eines winzigen kaukasischen Volkes, welches sich vom kolonialen Mutterland mit solch einem verbissenen Kampf abzutrennen versucht, bringt den Sohn in höchste Wutwallung. Hier wagt jemand, seine eigene verhinderte Sehnsucht zu verwirklichen. Dies ist der Schuldige am eigenen Unglück. Und Mütterchen Russland jubelt dem Feldzug gegen den Frechling zu, damit niemand das Urmodell der Osmose in Frage stellt, in Unkenntnis eines anderen Lebensstils und in Abwehr dagegen. Matuschka belohnt den neuen Wächter ihrer Grenzen, ihrer Grenzenlosigkeit mit dem einzigen, was sie anzubieten hat, mit noch mehr Bindung an sich.

Welche Machtkreise neben dem KGB-FSB halten Wladimir Putin als Marionette in ihren Händen, da sie ihm zur Macht verholfen haben, damit er zum Vollstrecker ihrer eigenen Interessen wird? Es gebe Hinweise darauf, dass die Bombenanschläge auf Hochhäuser in Russland nicht von sogenannten tschetschenischen Terroristen, sondern "von oben" veranlasst worden sind, um den Krieg zu rechtfertigen und damit einen quasi starken Mann in den Präsidentensessel zu hieven. Der nur noch im Suff lallende Boris Jelzin, in aller Öffentlichkeit von Frauenarmen gestützt, die ja dafür da sind, hat das Maß der fehlgeschlagenen Männlichkeit zu lange überzogen. Insofern wirkt der Rambo spielende Putin in seinem militärischen Strampelanzug schon erwachsener. Doch wie er auch eine starke Persönlichkeit vortäuscht, er ist ein ferngelenkter Zombie, ein Sohn von Matuschka. Sie strickt sich ihren "Mann" nach dem Strickmuster der eigenen Zwangsjacke zu und führt ihn in ewige Verstrickungen.

In den Klagen über den Zerfall des Imperiums taucht als zentrales Wort der intime Begriff "Liebe" auf. "Wir liebten uns doch früher alle so, warum lieben uns jetzt die Kaukasier, die Balten, die Kasachen nicht mehr? Warum wollen uns alle verlassen? Wir haben ihnen geholfen, ihnen die Kultur gebracht, uns für sie geopfert, und sie vergelten es uns mit Bösem." Das Böse heißt die Autonomie des Anderen. Der Entkolonisierungsprozess, ausgelöst 1989 von unterjochten Völkern, wird vom symbiotischen Kolonialherren als persönliche Liebesenttäuschung erlebt. Eine nicht vorgespielte Bestürzung ist das in jedem Einzelnen, die in einem kollektiven Vernichtungszug gegen das "Liebesobjekt" gipfelt. Erzwingen wird man sich diese Liebe, auf verbrannter Erde, unter Folter in den sogenannten "Filtrationslagern". Sogar in den spärlichen Reihen der Kriegsgegner wird kaum erwähnt, dass der Krieg vor allem tschetschenische Zivilbevölkerung trifft, Frauen, Kinder, Alte.

Es wäre fast amüsant, wenn es nicht so tragisch wäre, die tiefe Trauer in den Gesichtern von Russinnen und Russen zu erleben, wenn ich erwähne, dass ich tschetschenische Freundinnen habe. Dieses Reizwort löst einen Schwall von "Beweisen" für die Schlechtigkeit des tschetschenischen Volkes aus. Auch intelligente und gütige Russen meinen, mich Unwissende müsse man bloß gebührend aufklären über diese Sklavenbesitzer, Halsabschneider, Mafiosi und Islamisten. Manchmal wird feinfühliger unterschieden zwischen den "bösen Separatisten" und den "guten" Tschetschenen, die den Anschluss an Russland befürworten, als hätten die Tschetschenen zur Zeit eine Alternative zu Unterwerfung oder Tod. Die Gastgeber verstehen es als moralische Pflicht, "ihren" Gast vor den gefährlichen Kaukasiern zu beschützen, mit denen sie sich selbst nicht einlassen würden. Und ihre feste Wertskala wankt - die Westler müssten sich doch Russland, das europäisch ist, näher fühlen als den "zweit-, drittrangigen" Völkern in ihrem Reich. "Die Tschetschenen, diese Banditen, haben sie eingewickelt." Sorgenvoll schütteln sie den Kopf.

Es ist, als sitze vor ihnen ihr leiblicher, auf Irrwege geratener Sohn, der von Matuschka auf den rechten Weg zurückgebracht werden muss. Die ungefragte Sohnfabrikation etabliert sich in jeder noch so zufälligen Gruppierung. Der bloße Seitenblick aus dem Küchenfenster, dieses erweiterten Mutterkuchens, ist schon Verrat: wo willst du schon wieder hin, bleib bei mir, da, iss, nimm, und der unaufhörliche Tanz der runden Arme vom Herd zum Tisch wird zu jener Urbewegung, die alle leiblich und geistig aneinander bindet. Dazu wird die Klage serviert: Russland geht es schlecht, am schlechtesten von allen, hilf uns und niemandem sonst. Kauernd auf Atomwaffen, bar jeder Selbstdistanz, wird jeder Blick von außen misstrauisch gedeutet - ist der Andere da, um uns zu vernichten, oder um sich mit uns zu verbünden?

Die Mutterhöhlenmentalität kennt kein neutrales Verhalten. Fällt ein kritisches Wort, lässt sich Wladimir Putin auf einem Atom-U-Boot fotografieren, und der Europarat betreibt Realpolitik und nimmt die Kritik zurück. Der sonst so väterlich auf Unterscheidung pochende Westen wird mütterlich nachsichtig und nebulös, wenn es um Russland geht. Seit Monaten reden die westlichen Politiker von Menschenrechtsverletzungen, die zu untersuchen seien, um sich ein Bild der Lage zu machen, als wären die offensichtlichen Tatsachen der ständigen Bombardierungen des gesamten Tschetscheniens und das Vorhandensein von Konzentrationslagern nicht verabscheuungswürdige und sanktionsbedürftige Verbrechen genug.

Gerade jenes Macht- und Penetrationssymbol, das lange U-Boot, das nun kläglich am Meeresgrund liegt, verwandelt sich für Wladimir Putin und die Militäroberhäupter in eine riesige Matrjoschka, jene folkloristisch verniedlichte hohle Mutterfigur, die ihre Ebenbilder der Größe nach in ihrem Schlund verstaut, den mittleren Chef in dem großen, den kleinen in dem mittleren, bis sie allesamt verschwunden sind. Putin Co. wollen aber nicht verschwinden, und so müssen wiederum die Nordkaukasier als überall am Werk, auch 100 Meter unter dem Meer als Bombenleger herhalten. Ob dieses neue Märchen, das Putin auftischte, von den ins U-Boot eingedrungenen islamischen Bösewichten aus Dagestan noch jemand glaubt? Doch solange auch im Westen keine Anstrengung unternommen wird, die Nordkaukasier zu kennen, kann man ihnen alles andichten.

Nicht nur scheuen sich internationale Organisationen wie die OSZE, Kontakt mit den offiziellen Vertretern des gewählten Präsidenten Aslan Maschadow aufzunehmen, an westlichen Veranstaltungen treten, "europäisch" verpackt, quasi neutral analysierend russische Referenten als Experten für Tschetschenien auf. Der gemeinsame Nenner in ihren Ausführungen ist die Ablehnung der tschetschenischen Eigenstaatlichkeit. Tschetschenische Fachleute lädt kaum jemand ein. Auch russische Menschenrechtskreise, die nicht unbedingt weniger rassistisch sind, übernehmen paternalistisch die Rolle, in Genf oder in Strassburg die Menschenrechtsverletzungen an der tschetschenischen Zivilbevölkerung zu präsentieren, statt tschetschenische Menschenrechtler heranzuziehen. Verjagt aus ihren Häusern, ständig bedroht durch willkürliche Verhaftungen, systematische Vergewaltigungen ob Männer oder Frauen, Beschlagnahme auch des kleinsten Besitzes, verunglimpft als islamische Fanatiker, wird dem tschetschenischen Volk nicht nur das Existenzrecht entzogen, sondern auch die Möglichkeit, es der Welt aus eigener Sicht mitzuteilen.

Das russische Lebensgefühl, auf Gedeih und Verderb Matuschka Rossija ausgeliefert zu sein, sollen alle teilen. Neben Blutvergießen entlädt sich das Aggressionspotenzial über diese Abhängigkeit auch verbal. Das häufigste Schimpfwort, das wie ein Refrain die Sprache des russischen Sohnes über alle Schichten hinweg durchzieht, spricht für sich - job tvoju matj, fick deine Mutter. Bei jeder kleinsten Alltagsverärgerung wird die Mutter geschändet, was wohl eine Erleichterung verschaffen soll, eine Art Emanzipation des Sohnes heraufbeschwört, aber da zwischen mir und dir nicht unterschieden wird, fällt der Fluch der unerträglichen sexuellen Nähe mit der Mutter auf einen selbst zurück. Grobes Fluchen heißt auf Russisch mat, materitsa, materschtschina, es stammt von matj, die Mutter ab, an die es unzertrennlich gekoppelt ist. Im vaterdominanten Kaukasus ist mat dermassen tabu, dass die russischen Soldaten, die in jedem Satz die Ausdrücke automatisiert gebrauchen, wegen dieser schlimmsten Ehrenverletzung von den Tschetschenen umgebracht werden können. Die russisch-kaukasische Grenze ist auch diese sprachliche.

Russland, hin- und hergerissen zwischen Mutterhass und Mutterrespekt, lässt dann eine andere Meinung gelten, wenn diese geprüft ist durch die Leiden einer Mutter, deren Sohn für die Allmutter Matuschka Rossija gefallen ist. Die Kriegsliteratur sowie die Werke des sozialistischen Realismus stilisieren die am Tod des Sohnes erwachte Mutter zu einer heroischen Figur. Schon im letzten Krieg wie auch jetzt werden trotz Zensur offene Briefe von Müttern publiziert, die den Präsidenten wie einen verbrecherischen Sohn verfluchen. Eine Mutter nennt ihn einen Kinder fressenden Schakal und wünscht ihm die Qualen einer Mutter, die monatelang den Leichnahm ihres Sohnes sucht, bis sie endlich aus der vermengten Asche zweiter Toter "ihre" verkohlten Kohlenreste herauslesen kann. Auf solche Sprache kann kein Zar etwas Wesentliches einwenden. Sie ist stark, doch für ihn ungefährlich. Es ist die Sprache der Nur-Mutter, die über ihren Nesthorizont nicht hinausschaut, bar der Einsicht dafür, dass der russische Sohn am Genozid beteiligt war, Kinder anderer fraß.

Im letzten russisch-tschetschenischen Krieg formierte sich die einzige breitere Bürgerbewegung gegen den Krieg aus den russischen Soldatenmüttern, die ihre Söhne von der Front abholten, und sie besteht, wenn auch geschwächt, bis heute. Nicht Ehefrauen, nicht Väter, nicht Geschwister, nicht Söhne selbst, nicht einfach Bürgerinnen und Bürger handeln. Doch die meisten Soldatenmütter protestieren nur so lange, bis sie ihren Sohn zu Hause haben. Den zu Passivität Verurteilten verstecken sie dann sozusagen unter ihrem Rock, da er sonst als Deserteur für zwei Jahre in den Gulag kommt. Obwohl sich in den Komitees der Soldatenmütter auch Frauen engagieren, die keine Söhne im Krieg haben, tun sie dies zur Rettung der Söhne Russlands und bleiben somit Nur-Mütter. Den russischen Soldatenmüttern fehlt es an Größe, solange sie die imperiale Größe von Matuschka Rossija auf Kosten der Vernichtung anderer dulden.

Infolge von Bombardierungen sind die wenigen unversehrten Häuser in Tschetschenien dermaßen überfüllt mit Flüchtlingen, dass die Männer und größeren Knaben draußen schlafen, um den Frauen, den Mädchen und den Kindern das Haus zu überlassen. Dadurch halten sie die in der Kultur der Wajnachen, wie sich die Tschetschenen und ihre volksverwandten Inguschen selbst nennen, tief verankerte Trennung ein - die zwischen der Mutter und ihrem heranwachsenden Sohn, und allgemein die zwischen den Geschlechtern. Im benachbarten Inguschetien, wo sich durch die Flüchtlinge die Bevölkerung verdoppelt hat, führt die aufgezwungene Nähe zu enormem Stress und zur Zerstörung der nationalen Identität. Es erscheint mir nicht abwegig, neben den geostrategischen Interessen auch den Neid als Faktor im Feldzug gegen den Nordkaukasus anzuführen - den Neid des im geistigen Inzest lebenden russischen Sohnes auf eine Kultur, die die Loslösung von der Mutter als Vorbedingung für die Menschwerdung fordert. Die räumliche und geistige Distanz zwischen Menschen ist zwar bei den Wajnachen vor allem geschlechtsspezifisch und ihre Form durch die Gebräuche streng vorgegeben, aber das Recht auf Abgrenzung ist grundlegend für ihren Begriff der menschlichen Würde und Existenz überhaupt.

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