Charlotte Knobloch geht, aber der Zentralrat bleibt

Der Zentralrat der Juden braucht mehr als einen neuen Präsidenten. Die jüdische Moderne findet längst anderswo statt

Noch gab es keine Wahlen. Doch der Nachfolger von Charlotte Knobloch ist schon benannt. Der Generationenwechsel, den man jetzt überall beschwört, wird mit dem Frankfurter Unternehmer Dieter ­Graumann kaum eingeleitet. Gerade 17 Jahre trennen ihn von seiner Amtsvorgängerin. Wird der in Wahrheit Altgediente neuen Schwung ins festgefahrene Getriebe des Zentralrats der Juden in Deutschland bringen können?

Das Problem liegt im ­System. Die jüdische Moderne ist heute in den USA und Israel zu Hause, inhaltlich steht der deutsche Zentralrat vor verschiedenen Herausforderungen und Problemen – Schoa-­Erinnerung, Antisemitismus und Migration, er laviert zwischen Diaspora-mon-Amour- und Israel-I-love-you-Stimmung – der notwendige Umbau wird derweil hinausgezögert.

Das Zentralratsdilemma spiegelt die Kulturrevolution an der jüdischen ­Basis. Es ist eine schwierige Aufgabe, das vielfältigere jüdische Leben, das sich in Deutschland entwickelt hat, neu zusammenzubringen. Aber wer denkt hier vor, moderiert, leitet den Umbau an? Ein Runder Tisch wurde nicht aufgestellt, Spannungen und Fremdeln zwischen der Spitze des rotierenden Dachverbandes und seiner Basis aus 23 Landesverbänden, die 107 jüdische Gemeinden mit fast 110.000 Jüdinnen und Juden vertreten, sind an der Tagesordnung. Doch Meinungsvielfalt war noch nie eine Stärke des Zentralrats.

Charlotte Knobloch gilt als Symbol­figur des Überlebens vor 1945, verkörpert aber auch ein bayerisch-jüdisches Lebensgefühl aus der alten Bundesrepublik. Inzwischen bilden den Großteil der Mitglieder aber eingewanderte russischsprachige Juden, die nicht, wie ihre Verwandten in den USA, an bewährte Prinzipien jüdischer Wahldemokratie anknüpfen können. Der Zentralrat ist nur die Spitze des Eisbergs, will aber für alle Juden reden, obgleich die in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung größer ist als die Zahl seiner Mitglieder. Um diese Kluft zu schließen, bräuchte es fähige Moderatoren. Doch überall agieren nur Experten des Weiter-So.

Nach dem Mauerfall kamen bis 2005 rund eine Viertelmillion Menschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf dem jüdischen Ticket nach Deutschland, darunter viele nichtjüdische Familienangehörige. 80 Prozent der jüdischen Gemeinden rekrutieren sich aus diesen einst hochqualifizierten, heute gealterten, zumeist armen Zuwanderern. Deren Kinder und Kindeskinder feiern zwar die jüdischen Feste, halten sich aber zurück, wenn es um Belange der Gemeinschaft geht. Dabei sind sie Hoffnungsträger. Früher traf sich die jüdische Gemeinde auf dem Friedhof; heute immer öfter bei Geburten und Hochzeiten, in Kindergärten und Schulen.

Dazu kommt: Zehntausende junger kreativer Israelis, jüdische Amerikaner, Europäer und anderer, teils mit, teils ohne deutsche Vorfahren und Pässe, sind in den großen deutschen Städten zu einer unabhängigen jüdischen Bewegung außerhalb von Zentralrat und Religionsgemeinden angewachsen. Gerade hat sich in Berlins Prenzlauer Berg ein anti-religiöser israelischer Klub gegründet, leitet in Charlottenburg ein geschasster Gemeinderabbiner seine Privatsynagoge, die eine Suppenküche für Bedürftige gleich welcher Her­­- kunft unterhält, gibt es Debatten an englisch- und hebräisch-jüdischen Stammtischen.

Alle Juden sind für einander verantwortlich. Vielleicht müsste das zur Maxime eines neuen Zentralrats werden.


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