Das ZDF „vergißt“ die Tscherkessen

Geschichtsklitterung Sotschi-Berichterstattung: Konzentration auf Kosakenmythos, „Großen Vaterländischen Krieg“ und eine scheinbar urwüchsige dörfliche Welt verdecken Kolonialverbrechen

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Das ZDF erhebt mit seinen Doku- und Reportageformaten den Anspruch, investigative Recherche und kritischen, unahbängigen Journalismus zu präsentieren. Was das ZDF momentan an politischer Berichterstattung zu Sotschi 2014 bietet, ist dahingegen weder gut recherchiert, noch politisch aufgeweckt, noch selbstreflexiv genug, um nicht auf kolonialistische Erzählmusteer und geschichtsklitternde Wirklichkeitsausschnitte zurückzufallen. Es zeigt sich dies an gleich zwei Sondersendungen – beide mit der Intention und dem Anspruch, einen kritischen Blick auch auf die Schattenseiten von Sotschi 2014 und dem Regime Putin zu werfen.

Die Sondersendung „auslandsjournal spezial - Putins Winterspiele: Macht, Medaillen und Milliarden“ (Moderation: Theo Koll), die erstmals am 20.11.2013 im ZDF lief, bot mit ihren Einzelbeiträgen ein breites Spektrum an Themen, vom fehlenden Umweltschutz über LGBT-Rechte bis hin zu Arbeiterprotesten. Sie erweckte damit den Anschein, die Zuschauer umfänglich und vor allem auch kritisch über die verschiedensten Aspsekte der Austragung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi unterrichtet zu haben. Dem war aber beileibe nicht so. Während selbst den Problemen des russischen Breitensports ein gesonderter Bericht gewidmet wurde, fiel eines aus: die Tscherkessen als ursprüngliche Bewohner der Region hat man nicht zu nicht zu Wort kommen lassen.

Weder tscherkessischen Forderungen nach historischer Gerechtigkeit – der im 19. Jahrhundert an ihnen begangene Völkermord wurde nie politisch aufgearbeitet – noch Einwänden gegen den aus nordkaukasischer Sicht höchst pietätslosen, triumphalistischen Umgang mit der Kolonialgeschichte im Rahmen der Spiele, keinem von beidem hat man Gehör geschenkt. Schlimmer noch: das auslandsjournal verschweigt die Existenz dieses Volkes, seine Geschichte und Kultur gleich ganz. In insgesamt 30 Minuten Sendezeit fällt auch nicht nur einmal das Stichwort „Tscherkessen“. Ein kollektiver Brief an das ZDF, der sich zum Ziel gesetzt hatte, dies zu ändern, der die Macher des auslandsjournal wie auch den ZDF-Themendesk auf die an den Tscherkessen begangenen Massaker und Deportationen hinwies und höflich bat, man möge doch, gerade auch angesichts der allgemein fehlenden historischen Aufarbeitung, das beim ZDF Versäumte in Form einer gesonderten Reportage nachholen, blieb bis zum heutigen Tage völlig ohne Reaktion und Antwort - auch dies ein Zeichen der Mißachtung und des Desinteresses zumindest gegenüber den Belangen der tscherkessischen Diapsora in Deutschland. Um so mehr Spannung hatte im Vorfeld die zweite ZDF-Sondersendung unter dem eher einfallslosen Titel „Durch den wilden Kaukasus“ erzeugt.

In der Sendung Durch den wilden Kaukasus. Winterspiele in Sotschi(Buch: Anne Gellinek)mit Erstausstrahung vom 30.12.2013 wird – anders als im auslandsjournal spezial - tatsächlich auch der Anspruch erhoben, eine gewisse historische Tiefe zu vermitteln. Bereits in der Eingangssequenz läßt die Formulierung „Schroff und steil trotzten die Bergrücken des Kaukasus ihren Eroberern – bis Putins Winterspiele kamen“ jedoch den Eindruck entstehen, es handele sich bei der Region Sotschi um eine unberührte Naturlandschaft, die nun erstmalig mit ihren russischen Bezwingern in Berührung komme. Ganz so, als habe an den Stätten des heutigen Olympia im 19. Jahrhundert kein blutiger Eroberungskrieg getobt, als hätten in dessen Anschluß russische Soldaten nicht jedes Tal abgesucht und jeden Stein umgedreht um sicherzustellen, daß ja keinem Tscherkessen der Weg ins Exil erspart bliebe. Trotz historischer Reminiszenzen fehlt, ganz wie beim auslandsjournal, jegliche Bezugnahme auf die Tscherkessen selbst wie auch auf die kolonialen Massaker und Deportationen, die der Region erst ihre heutige ethnische Zusammensetzung und damit auch ihr Gesicht als moderne Vergügungs- und Ferienlandschaft gaben.

Substituiert wird die Schilderung der kolonialhistorischen Zusammenhänge durch eine revisionistische Präsentation der Kosaken alsdie regionalen Traditionen wahrende einheimische Bevölkerung (31:19 – 35: 32) . Bereits im Ankündigungstext der ZDF-Dokumentation ist auf ahistorische Weise von „Kosaken, die schon immer an den Grenzen Russlands gelebt haben” die Rede. Im gesonderten Begleittext zum Filmausschnitt „Wettkämpfe im Kosakenland“ heißt es ergänzend: „Die Region um Sotschi, der Kuban, ist Kosakenland. Schon die Zaren schickten die Kosaken als Wehrbauern ins Grenzgebiet zum Kaukasus, um Russland zu verteidigen.“ Um festzustellen, daß dies so nicht richtig ist, hätte bereits ein Blick in den marktüblichen deutschsprachigen Reiseführer zur russischen Schwarzmeerküste genügt (1).

Während sich die Kosaken seit dem 16. Jahrhundert in den Steppengebieten nördlich des Kaukasus aus dem Machtbereich von Zar und Grundeigentümer entlaufenen Bauern zu formieren begannen (2) und diese erst im Zuge der russischen Eroberungspolitik, d.h. gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, in das Siedlungsgebiet der Tscherkessen verpflanzt wurden, läßt sich die Bezeichnung „Tscherkessen“ für die Bewohner der Schwarzmeerküste anhand schriftlicher Quellen bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Eventuell reicht die Ethnosbildung der Tscherkessen sogar bis ins erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung zurück (3). Die Tscherkessen (im weiten, die verschiedenen westkaukasischen Stämme und Bevölkerungsgruppen umfassenden Sinne) können damit wie kein anderes heute noch lebendes Volk für sich reklamieren, die autochthone Bevölkerung des Westkaukasus darzustellen. Die Kosakenkultur als solche hingegen entstand in den nördlichen Steppengebieten erst durch die Hybridisierung bäuerlicher russischer Gewohnheiten mit lokalen nordkaukasischen Traditionen - infolge eines Anpassungs- und Lernprozesses der aus Zentralrußland stammenden Bauern an ihre neue, ungewohnte Umwelt. Demzufolge ist auch ein Großteil dessen, was uns im Film als genuin „kosakisch“ präsentiert wird, der Kultur und den Traditionen der Tscherkessen entlehnt und mit diesen großteils identisch.

Zu seinem Zeitpunkt, zu dem ein weiteres Mal die Erinnerung an die tscherkessische Präsenz in der Region unterdrückt und Spuren beseitigt werden sollen, Museumsausstellungen geschlossen, imperiale Denkmäler wiedererrichtet und politische und intellektuelle Wortführer nordkaukasischer Ethnien drangsaliert werden, erweckt die ZDF-Dokumentation geradezu absurderweise den Anschein, als sei Präsident Putin jemand, der nach den Verboten der Sowjetzeit nun lokale Traditionen wieder restauriere. So heißt es im Reportageteil zu den Kosaken aus dem Off: „Unter Putin dürfen sie ihre Traditionen wieder leben – wie früher sollen sie Rußlands Ruhm verteidigen“. Im Gegensatz zu dem, was der Begriff „verteidigen“ hier suggeriert, wurden die Terek- und Kubankosaken, nachdem sie im 18. Jahrhundert in russischen Staatsdienst übergegangen waren, jedoch weitaus weniger zur bloßen Verteidigung russischen Grenzen eingesetzt, sondern s vielmehr für eine aggressive Politik der imperialen Ausdehnung. Sofern sie nicht (in Einzelfällen) die Seiten wechselten oder rebellierten, waren die Kosaken auch an der zarischen Politik des Terrors gegenüber den Tscherkessen beteiligt, halfen sie mit bei der Durchführung der ethnischen Säuberungen und Deportationen der 1850er und 1860er. Sie waren es auch, die nach Vorstellung der russischen Regierung nach der Vertreibung und Ermordung der lokalen Bevölkerung den Westkaukasus besiedeln sollten. Es sind also die Eroberer selbst, die uns das ZDF als „traditionelle Bevölkerung“ präsentiert.

Eine weitere Substituierung der Geschichte der Tscherkessen durch eine andere, spätere und „europäischere“ Erzählung erfolgt im Film von Minute 15:16 bis 20:59. Geschildert wird ein Ausflug zum Kriegerdenkmal bei Krasnaja Poljana am 9. Mai. Die Beschreibung eines der lokalen russischen Gesprächspartner, es handele sich beim Ausflugsziel um den „einzigen Ort in den Bergen von Krasnaja Poljana, an dem zwei Armeen sich erbittert bekämpft haben“, wird von Anne Gellinek unkommentiert stehengelassen. Ebenso wenig wird die Bemerkung, man wolle „die Menschen ehren, die hier gefallen sind“, historisch eingeordnet. Für diejenigen, die mit der Koloniageschichte des Nordkaukasus vertraut sind und auf deren Erwähnung im Film warten, sind diese unkommentierten Aussagen und die folgende Konzentration auf das Denkmal zum sowjetischen Tag des Sieges der blanke Hohn. Natürlich ist gerade auch für ein deutsches Publikum das Leid, das der hitlersche Angriff über die Menschen der Sowjetunion brachte, erwähnenswert, allein der hier suggerierte regionale Bezug erschließt sich nicht: die Armee Hitlerdeutschlands hat ihren Angriff gegen Rußland an einer Front von mehreren tausend Kilometern Länge durchgeführt, der Mißerfolg der Operation Edelweiß (im Herbst 1843) ist nicht vor Ort in Krasnaja Poljana entschieden worden und auch der 9. Mai (1945) ist ein gesamtrussisches Datum ohne spezifische lokalhistorische Bedeutung.

Die enttäuschte Zuschauererwartung und die absurden Untertöne für der Geschichte des Westkaukasus Kundige resultieren daraus, daß es in der Tat ein militärische Entscheidung von historischer Tragweite gab, die in unmittelbarer Umgebung von Krasnaja Poljana – und nur dort – fiel. Am 10. und 11. Mai 1864 fanden in der Umgegend von Krasnaja Poljana (Täler der Mzymta und Psou) die Gefechte zwischen russischen Truppen und Ahchipsou (vom Stamme der Abaza) als den letzten Tscherkessen, die noch nennenswerten Widerstand zu leisten in der Lage waren, statt. Die Niederlage der Abaza besiegelte den Untergang der Tscherkessen im Westkaukasus, es folgten genozidale Deportationen ins Osmanische Reich. Die Hochebene Kbaada - heute als „Krasnaja Poljana“ Teil des Olympia-Projektes - ist der Ort, an dem das zarische Rußland am 21. Mai 1864 den erfolgreichen Aschluß seines rund hundertjährigen kolonialen Eroberungskrieges im Nordkaukasus feierte - wie es Imperien zu tun pflegen, mit Gottesdienst und Siegesparade. Für die Tscherkessen symbolisiert dieser Ort hingegen die Trauer über den verlorenen Krieg, die vielen Toten, den dauerhaften Verlust ihrer Heimat und Wut über das triumphierende Verleugnen des Siegers.

Der Film jedoch folgt in seinem kurzen Ausflug in die Vergangenheit ausschließlich der Perspektive russischer „Patrioten“, die anläßlich des aus sowjetischen Zeiten stammenden Gedenktages sich der Menschen, die für „unsere Freiheit, unser Land, für unsere Heimat gestorben sind“, erinnern. Die Tscherkessen, die bei Krasnaja Poljana für ihre Freiheit, ihr Land und ihre Heimat ihre letzte vergebliche Schlacht gegen die russischen Eroberer schlugen, sind dem ZDF auch hier, in unmittelbarer Nähe zum historisch symbolträchtigsten Ort, keine Erwähnung wert. Was zu einem kritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte und einem Stück deutscher Vergangenheitsbewältigung hätte werden können, gerät im Geschichtsverschnitt des ZDF (ebenfalls O-Ton der fraglichen Passage: „Keiner ist vergesssen, nichts ist vergessen“) zum grotesken Akt des gemeinsamen Verschweigens und Verleugnens eines kolonialen Völkermordes. Die Tscherkessen, die in Folge der russischen Politik der verbrannten Erde oder im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen und russischer Massaker im Westkaukasus selbst umgekommen waren oder aschließend auf dem Weg ins osmanische Exil zu zehntausenden starben, ihrer wird hier von russisch-deutscher Seite nicht gedacht und erinnert.

Ignorant ist der Dokumentarfilm „Durch den wilden Kaukasus“ jedoch nicht nur gegenüber den Tscherkessen, sondern auch gegenüber weiteren nordkaukasischen Ethnie, den Balkaren mit einer ebenfalls traurigen Vergangenheit. In einer weiteren Reise-Episode (Minute 35:40 -41:13) beschäftigt sich die ZDF-Reportage mit dem Dorf Bezengi, das als Exempel dafür herhalten muß, daß auch noch andernorts als in Sotschi die Schaffung moderner Skizentren geplant und mit Konflikten behaftet ist. Beschrieben wird die geographische Lage des Dorfes als „auf der Rückseite des großen Kaukasus-Kamms jenseits von Sotschi“ gelegen. Weder wird im Film erwähnt, daß der Ort bereits zu Kabardino-Balkarien als einer Teilrepublik der Russischen Föderation gehört (um zumindest den Namen der Republik zu lesen, muß man schon die mit der Dokumentation mitgelieferte Bildstrecke duchklicken, weitere Informationen finden sich allerdings auch dort nicht) - noch wird gesagt, daß es sich bei den Dorfbewohnern um Angehörige der Titularnation der Balkaren handelt. Warum der lokale Gesprächspartner von Anne Gellinek als ein „Husein vom Ältestenrat“ vorgestellt wird, erschließt sich somit nur dem, der nicht auf Informationen durch das ZDF angewiesen ist.

Bereits die einleitenden Kommentare zur Vorstellung des Ortes erwecken ein Bild urwüchsiger Rückständigkeit, die früher oder später einer westlich geprägten Moderne weichen wird. Es heißt: „In Bezengi sind Straße und Welt zuende. Noch knapp 600 Menschen und genausoviele Kühe leben hier.“ Das als „Cluster“ bezeichnete zukünftige Skigebiet sei von der Regierung beschlossen worden, „um die Region zu entwickeln“. Das Projekt wird allerdings auch von den Filmemachern selbst als „Ort, der das aussterbende Gebirgsdorf retten soll“, als Hoffnungsobjekt der gesamten Dorfbevölkerung dargestellt: „Es gibt keine Arbeit in Bezengi und deshalb träumen alle von Cluster“. Zwar wird erwähnt, daß das Dorf um seine Zukunf im Streit liege und man sich Sorgen um das Weideland mache, jedoch wird dieses Problem letztendlich auf die Frage reduziert, ob die lokale Bevölkerung auch ausreichend Möglichkeiten zur Teilhabe an Vorzügen und Gewinn des Projektes erhalte.

Bereits der russische Wikipedia-Eintrag zu Bezengi verweist jedoch auf eine ganz andersgeartete, tiefergehende und schwerwiegendere Wahrheit: die Dorfbewohner gehörten als Balkaren zu jenen Volksgruppen, die von Stalin während des 2. Weltkrieges als „feindlich“ nach Zentralasien deportiert wurden. Zurückkehren duften sie erst nach Stalins Tod im Jahr 1957. Eine vollständige Rehabilitierung und Wiederherstellung der ursprünglichen Besitzverhältnisse hat nie stattgefunden, auch nach der Entkollektivisierung der 1990er nicht.

Wie eine bequem im Internet einsehbare Regionalstudie (4) ausführt, gehörte das besagte Dorf Bezengi zu insgesamt 7 Dörfern im Chulamo-Tal, von denen im Jahr 1937 –so die Studie – das Dorf Chulam für sich allein genommen schon 1000 Höfe zählte. Nach der Rückkehr der Balkaren aus Zentralasien im Jahr 1957 wurde ausschließlich das Dorf Bezengi wiederbelebt, mit lediglich 187 Höfen. Was diese Zahlen bereits andeuten: eine vollständige Rehabilitation hat nicht stattgefunden, auch im ökonomischen Sinne nicht, die Besitzverhältnisse sind weiterhin ungeklärt, so daß es den Dorfbewohnern ganz erheblich an Weideland fehlt, von dem ein Großteil unterdessen in der Hand eines Monopolisten brachliegt. Das Dorf stirbt nicht, wie uns das ZDF glauben machen möchte, aufgrund von überkommenen, nicht mehr zeitgemäßen Wirtschaftsstrukturen, sondern einer auf halbem Wege steckengebliebenen Rehabilitation und Entkollektivierung. Es ist umgekehrt so, daß für eine traditionelle Bewirtschaftung die traditionellen Besitzverhältnisse fehlen (4). Der geplante Bau eines Skiresorts droht dieses Problem noch zu verschärfen und trifft deswegen auf heftigen Widerstand, nicht bloße, eher technische Meinungsverschiedenheiten (5).

Während der Film ein natürliches Aussterben nicht mehr zeitgemäßer Lebensformen suggeriert und damit eine Auffassung historischen Wandels bemüht, wie sie im Evolutionismus des 19. Jahrhunderts ihr Licht erblickt hatte (und auch von den russischen Kolonisatoren für den Nordkaukasus so formuliert worden war), täuscht er uns über die Folgen der Stalinverbrechen, des Zusammenbruchs der Sowjetunion und einer fortgesetzt kolonialistischen Haltung der russischen Regierung hinweg. Nicht das Klammern an die Tradition sorgt für den Niedergang des Dorfes, es sind die anderwso bestimmten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die eine wirkliche Entkolonialisierung und Rückkehr zu einer selbstbestimmten Lebensweise verhindern.

Sowohl in Bezug auf die Tscherkessen als auch in Bezug auf die Balkaren läßt sich feststellen: während der Film sich in Hinsicht auf die aktuelle russische Regierungspolitik distanziert gibt und bisweilen gegenüber Putin einen derart süffisant und ironischen Ton auflegt, daß die Kritik a ihm auch nicht mehr wirklich ernst und sachlich scheint, könnte die vom ZDF gebotene Geschichtsversion mit ihrem Ablenken und Überdecken von postkolonialer Problemen mit einem Kosakenmythos auf der einen und einer staatlichen Entwicklungsthetorik auf der anderen Seite nicht kremltreuer sein.

Ist es Absicht, daß uns das ZDF die Kolonialgeschichte der Region und sogar Existenz und Namen der autochthonen Bevölkerung verschweigt? Hat die studierte Osteuropahistorikerin und Leiterin des ZDF-Studios Moskau Anne Gellinek, nur wenige Mausklicks oder einen Blick in den Reiseführer entfernt, die entsprechenden Informationen nicht gefunden? Schiebt das ZDF Ablenkungsmanöver oder ist es selbst Opfer geschichtsrevisionistischer Täuschungsversuche seiner russischen Gastgeber geworden? Ist es schlampige Recherche gepaart mit einem vorurteilsbeladenen Blick, der nur das Altbekannte sucht? Oder liegt die Schuld bei den Denkrastern des weißen Europäers, der seine ganz eigenen Vorstellungen davon hat, welche Themen und Aspekte zählen und welche nicht, der die Rechte und Probleme indigener Bevölkerungen als „Nicht-Europäer“ nicht ernst nimmt? Ich weiß es nicht, würde aber doch stark vermuten, daß Verdrängungsmechanismen, wie sie klassischerweise bei Kolonialverbrechen und Genoziden ablaufen, an beiden Filmen in ihrer speziellen, geschichsverzerrenden Form zumindest beteiligt waren.

Ein kleines, verdruckstes Eingeständnis bzw. ein mögliches unbewußtes Registrieren des Abwesenden findet sich denn auch in mehrern kleinen Details am Rande der Reportagen selbst, die zusammengenommen ebenfalls eine Verschiebung, Verdrängung und Substituierung ergeben: im auslandsjournal spezial ist bei Minute 8:03 ganz kurz von den "letzten Ureinwohner von Krasnaja Poljana“ die Rede, dann aber schwenkt die Kamera doch nur auf eine Dorfbewohnerin mit russischem Namen, deren ethnische Identität das ZDF dann einfach offen läßt. In einem weiteren Akt des Verschiebens auf ein Ersatzobjekt taucht der Begriff „Ureinwohner“ dann in der Bildstrecke „Olympiafieber im Kaukasus“ auf. Während der Film selbst mit dem Satz „Obwohl sie mitten drin sind, bleiben Natasha und Ilja außen vor“ noch recht prosaisch kritisiert, daß die örtliche – russische (!) – Bevölkerung nicht am Olympiageschäft beteiligt wird, heißt es in der Bildquelle (Bildunterschrift Bild 23) zu eben diesem russische Ehepaar dann sogar: „ZDF-Autorin Anne Gellinek im Gespräch mit Natascha und Ilja, sie sind sozusagen die letzen „Ureinwohner“ der Stadt“.

Die Ersetzung der eigentlichen Ureinwohner, der Tscherkessen, durch russische „Sozusagen-Ureinwohner“, sie ist nicht nur eine unbewußte Reinszenierung der zarischen Bevölkerungspolitik, auch sie hat ihre literarischen Vorbilder in der europäischen und russischen Kolonialliteratur, in der auf ähnlich halb-nostalgische, halb-fatalistische Weise über das „Verschwinden der Eingeborenen" sinniert wurde. Die Tscherkessen, ebenfalls „mitten drin“ und doch „außen vor“, müssen unterdessen aus der Ferne zusehen, wie sich ein Teil ihrer tragischen Geschichte – der des Vergessens, Verdrängens und Verleugnens - wiederholt.

Nachtrag: Daß es auch anders geht und selbst ein eher unterhaltsam angelegtes Reiseformat zu einem respektvolleren Umgang mit den Tscherkessen, ihrer Geschichte und Kultur finden kann, zeigt der MDR in seiner neuen fünfteiligen Reihe „Mit Sack und Pack nach Sotschi“. Auch wenn in der bisher ausgestrahlten ersten Folge die Tscherkessen eher folkloristisch präsentiert werden und ihre „Vertreibung“, wie es hier heißt, nur kursorisch erwähnt wird, so darf man doch gespannt auf die weiteren Folgen warten, für die uns unter anderem der Besuch einer schapsugischen Hochzeit versprochen wird.

Für Aktive: Eine formale Beschwerde an den ZDF-Fernsehrat ist in Kürze auf meinem blog unter http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/ zu finden und kann dort auch mitunterzeichnet werden. Bereits jetzt unterzeichnet werden kann eine Petition auf change.org, mit der wir die deutsche Politik auf die Tscherkessen hinweisen und die Öffentlichkeit für ihre Anliegen sensibilisieren möchten.

Für Aktive: Es existiert eine Petition auf change.org, mit der wir die deutsche Politik auf die Tscherkessen hinweisen und die Öffentlichkeit für ihre Anliegen sensibilisieren möchten.

Quellen:

Sternfeldt, Andreas/ Thöns, Bodo: Die russische Schwarzmeerküste. Unterwegs zwischen Soči und Anapa. Berlin: 2005

z.B. in Thomas Barrett: At the Edte of Empire. The Terek Cossacks and the North Caucasus Frontier, 1700-1860, Boulder: 1999, S. 13

Polovinkina, Tamara V.: Čerkesija – bol' moja. Istoričeskij očerk (drevnejšee vremja – načalo XX v.). Majkop: 2001, S. 34 und S. 14-29 zur Ethnogenese.

Bezengi: Budet-li tret'ja žizn'? Case-study, Oktober 2009, unter: http://ramcom.net/?p=925

Kazenin, Konstantin: Health Resort Construction in the North Caucasus: Exacerbation of the Land Issue. Russian Economic Developments Nr. 1, 2013 (Gaidar Institute for Economic Policy), S. 69-73, unter: http://www.iep.ru/files/RePEc/gai/recdev/60Kazenin.pdf

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