Die pränatale Diagnose (PD) angeborener Fehlbildungen und genetisch bedingter Erkrankungen gehört seit 25 Jahren zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen in der Bundesrepublik Deutschland. Schätzungsweise zehn Prozent aller Schwangerschaften werden heute einer invasiv vorgehenden PD unterzogen. Gleichzeitig weitet sich das Angebot nicht-invasiver Verfahren auf immer mehr Schwangerschaften aus. Als nicht-invasiv gelten der Fehlbildungsultraschall und die Untersuchung des mütterlichen Serums, die das Risiko für das Vorliegen einer Chromosomenstörung abklären soll, wie zum Beispiel die Trisomie 21 (das so genannte Down-Syndrom; das Chromoson 21 ist dreifach vorhanden) oder eines Neuralrohrdefektes (zum Beispiel offener Rücken). Klar ist die Tendenz, jeder Schwangeren die Möglichkeit anzubieten, ihr indviduelles Risiko abzuklären, ob sie ein Kind mit einer Trisomie 21 erwartet.
Betrachtet man die Entwicklung der PD, so fällt auf, wie stark sich das Angebot ausgeweitet hat und dadurch die ursprünglichen Ziele der PD verändert wurden. Die PD hat sich von einem an eng gefassten Indikationen orientierten Angebot, das nur auf Schwangere mit einem a priori erkennbar erhöhten Risiko für spezifische genetisch bedingte Störungen bezogen ist, zu einem Angebot entwickelt, das die Risiken für alle Schwangeren abklären soll. Damit veränderte sich die Philosophie vom "Ausnahmeangebot nur in bestimmten Fällen" hin zum Routineangebot. Mit diesen Veränderungen ist ein "Normalisierungsprozess" in Gang gesetzt worden, der zur Folge hat, dass die PD immer stärker den Charakter eines allgemeinen Screeningverfahrens annimmt und sich von der Vorgabe eines "individuellen" Testangebots, das sich an den Maßgaben einer individuellen Beratung und Aufklärung, eines qualifizierten "informed consent" orientiert, entfernt.
Pränataldiagnostik im frühen Modellversuch
Da die PD zum Zeitpunkt der ersten experimentellen Untersuchungen 1969/1970 schwerwiegende rechtliche (der § 218 StGBwar damals noch nicht reformiert) und ethische (Schwangerschaftsabbruch nach bestimmten Befunden beim Feten) Probleme aufwarf, bestand Konsensus, dass PD nur innerhalb besonders beschriebener Voraussetzungen (eng gefasste medizinische Indikation, Einhaltung der Triade Beratung - PD - Beratung, Wahrung der Freiwilligkeit der Inanspruchnahme) durchgeführt werden sollte. Dieses Konzept wurde in die klinische Erprobungsphase der PD integriert, die mit Hilfe eines Schwerpunktprogramms der DFG finanziert wurde. Insgesamt lief dieses Förderprogramm fast zehn Jahre. Im Rahmen des Programms wurden die verwendeten Verfahren, die damit verbundenen Eingriffsrisiken (etwa Fehlgeburten), die Diagnosen und ihre Zuverlässigkeit, die Entscheidungen nach Diagnosen und so weiter dokumentiert und evaluiert. Gleichzeitig wurden mit diesem Programm Qualifikationsmaßnahmen, unter anderem die genetische Beratung und die erforderliche Personalausstattung für das Leistungsangebot finanziert. Damit sollten Struktur- und Prozessqualität der PD gewährleistet werden.
Innerhalb der damaligen wissenschaftlichen Gemeinschaft der Gynäkologen und Humangenetiker, die das Schwerpunktprogramm planten und durchführten, bestand Einvernehmen, dass interdisziplinär die neuen Möglichkeiten der Chromosomendiagnostik fetaler Zellen in die vorgeburtliche Untersuchung eingeführt werden sollten. Dabei stand die Identifizierung von Feten mit einer numerischen (zahlenmäßigen) Chromosomenstörung -der Trisomie 21 - an erster Stelle. Begründet wurde dies mit der relativen Häufigkeit dieser Störung im Vergleich zu anderen Chromosomenstörungen, der verhältnismäßig leichten Identifizierbarkeit von Risikogruppen (die Wahrscheinlichkeit der Trisomie 21 steigt mit dem Alter der Mutter) und damit, dass es sich hierbei um eine "schwerwiegende", nicht behebbare genetisch bedingte Beeinträchtigung handele.
Im Laufe der Etablierung der vorgeburtlichen Chromosomendiagnostik wurden weitere numerische Chromosomenstörungen, aber auch strukturelle Störungen (Verluste von Chromosomenabschnitten oder Zunahmen) und unklare, nicht eindeutig mit einer bekannten Beeinträchtigung in Verbindung zu setzende chromosomale Veränderungen (z. B. Mosaike) identifiziert. Damit entstand bald das bis heute ungelöste Problem, wie Schwangere mit unklaren Chromosomenbefunden und bei Prognosen numerischer Chromosomenstörungen mit klinisch weniger bedeutsamen Beeinträchtigungen adäquat beraten werden können.
Aufgrund des fehlenden Therapieangebots für genetisch bedingte Störungen wie der Trisomie 21 und der daraus resultierenden Option des Schwangerschaftsabbruchs war bei der Etablierung der PD vorgesehen, dass vor ihrer Durchführung eine ausführliche Beratung der Schwangeren erfolgt. Die Beratung sollte ergebnisoffen, nicht-direktiv sein, um die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme und die Entscheidungsautonomie der Schwangeren in der PD zu gewährleisten. Es wurde davon ausgegangen, dass ein informiertes Einverständnis ("informed consent") nur dann möglich ist, wenn die Schwangere vor der Untersuchung die relevanten Informationen erhält, die sie in die Lage versetzt, die Möglichkeiten, Grenzen, Risiken und Handlungsoptionen der PD zu bewerten und sich für oder gegen die Inanspruchnahme auf der Basis ihrer persönlichen Wertmaßstäbe zu entscheiden.
Sprunghafte Inanspruchnahme
Eine Einflussnahme Dritter auf die Entscheidung der Schwangeren, die PD in Anspruch zu nehmen und bei bestimmten Befunden die Schwangerschaft abzubrechen, sollte ausgeschlossen werden. Ebenso sollte vermieden werden, dass die PD zur Routineuntersuchung in der Schwangerschaftsvorsorge wird, sie sollte expressis verbis nicht zu einem Automatismus führen. Um eine entsprechende Beratungsinfrastruktur vorhalten zu können, konnten 1975/76 die Bundesländer und die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) überzeugt werden, den Ausbau der genetischen Beratungsstellen, überwiegend an den Medizinischen Einrichtungen der Universitäten, zu finanzieren. Angeboten werden sollte die PD mit entsprechender Beratung nur einem begrenzten Kreis von Schwangeren, die ein erkennbar erhöhtes genetisches Risiko hatten. Das Altersrisiko für eine Trisomie 21 wurde auf 38 Jahre und älter festgesetzt.
Im Jahre 1976, als die PD in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen wurde, betrug die Anzahl der dokumentierten pränatalen Diagnosen 1.796, gut zehn Jahre später, 1987, war die Zahl auf über 36.000 Untersuchungen gestiegen, 1995 wurden über 60.000 Untersuchungen von den GKV in den alten Bundesländern und Berlin finanziert. Die Steigerungsrate an durchgeführten PD betrug allein zwischen 1991 und 1995 44,4 Prozent.
Die Zahl der genetischen Beratungen, die insgesamt in den alten Bundesländern und Berlin durchgeführt wurden, stieg jedoch nicht im vergleichbaren Maße. Mitte der achtziger Jahre wurde deutlich, dass die qualifizierte genetische Beratung durch entsprechend ausgebildete Berater, entgegen dem ursprünglich vorgesehenen Modell, in der Praxis nicht aufrecht erhalten wurde und das ursprüngliche Konzept den im Alltag der klinischen Praxis wirksam werdenden Kräften nicht standhalten konnte. Ein Gemenge unterschiedlicher Interessenslagen, rechtliche Entscheidungen und technische Weiterentwicklungen bestimmten die Art und Weise wie sich die PD in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte.
Ausweitung der PD: Das Kind als "Schaden", Nachfrage und Angebot
1. Rechtliche Entscheidungen
Entscheidend war ein Urteil des Bundesgerichtshofs 1984, nach dem ein Arzt einen Pflichtverstoß begeht, wenn er eine Schwangere mit einem erhöhten Risiko nicht auf die Möglichkeit der PD zum Ausschluss einer Trisomie 21 hinweist. Eine Frau, die aufgrund dieses Pflichtverstoßes ein Kind mit einer Trisomie 21 zur Welt bringt, hat Anspruch auf Schadensersatz. In dem Zeitraum, in dem das Verfahren durch die Instanzen ging, und nach dem endgültigen Urteil verdoppelte sich der Anteil der durchgeführten PD. Damit wurde invasive PD defensiv als Leistung zur Vermeidung von Schadensersatzansprüchen gegenüber den Anbietern offeriert. Diese defensive Ausweitung der pränataldiagnostischen Angebote führte zur Vernachlässigung des "informed consent" und der Nichtdirektivität der Beratung und wurde nicht selten unter Berufung auf das Urteil gerechtfertigt.
2. Gesteigerte Nachfrage durch Schwangere
Untersuchungen zu Beginn der achtziger Jahre zeigten, dass in ihren Anfängen die PD bevorzugt von Frauen aus der Oberschicht bzw. berufstätigen Frauen der oberen Mittelschicht mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, mit qualifizierter Berufsausbildung in Anspruch genommen wurde. Diese Frauen waren in der Regel sehr gut über die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik informiert. Jüngere Frauen aus diesen sozialen Schichten akzeptierten die bestehende Altersbeschränkung des Zugangs nicht und versuchten die Grenze für die geltende Altersindikation zur PD zu umgehen.
Durch den Nachfragedruck dieser Frauen entstand die so genannte "psychologische Indikation", das heißt eine Indikation, die immer dann zugrunde gelegt wurde, wenn kein a priori erhöhtes Risiko für ein Kind mit einer Chromosomenstörung zu erkennen war, das das Eingriffsrisiko einer invasiven PD, Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) oder Chorionzottenbiopsie (Untersuchung des der Plazenta entnommenen Chorionzottengewebes) gerechtfertigt hätte, die Schwangere aber dennoch eine PD durchführen lassen wollte. Die so genannte "psychologische Indikation" hielt bis zur Einführung des Triple-Tests im Jahr 1992 unangefochten den zweiten Platz unter den Indikationen, aufgrund derer eine PD durchgeführt wurde (10-15 Prozent aller Diagnosen). An erster Stelle lag mit circa 60-70 Prozent die so genannte Altersindikation.
3. Ausweitung der Laborkapazitäten
Als in den achtziger Jahren schließlich genügend Laborkapazitäten zur Verfügung standen, wurde die Altersindikation geändert und die "Risikogrenze" auf 35 Jahre festgelegt. Die Anpassung der Indikation zur PD an die Nachfrage unterminierte das Konzept der medizinischen Indikation, das sich an der Höhe des a priori erhöhten Risikos orientierte.
4. Tolerierung der Ausweitung durch die Gesetzlichen Krankenversicherungen
Die Einbeziehung der psychologischen Indikation und die Herabsenkung der Altersindikation wurden von den GKV auf dem Kulanzweg mitgetragen und liefen den Interessenslagen der Anbieter, insbesondere der niedergelassenen Ärzte, die ihre Patientinnen halten wollten, zumindest nicht zuwider. In anderen Ländern, in denen der Umfang der PD-Leistungen und ihr Zugang stärker über strikte Indikationskataloge begrenzt werden, wie beispielsweise in den Niederlanden, in Frankreich oder Großbritannien, gab es eine Erweiterung dieser Indikationen nicht in dem Maße wie in Deutschland.
5. Angebotsbezogene Nachfrage
In den neunziger Jahren weiteten sich die Möglichkeiten der nicht-invasiven Risikospezifizierung für Chromosomenstörungen beim Kind durch die Weiterentwicklung bildgebender Verfahren (Ultraschall) und durch die Entwicklung von Tests, mit denen biochemische Marker (vor allem der so genannte Triple-Test) im mütterlichen Blut bestimmt wurden, aus.
In Deutschland verbreitete sich entgegen der Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften der Triple-Test ungehemmt schnell. Dabei wurde weder seine Zuverlässigkeit im Sinne der Wiederholbarkeit des Tests mit identischem Ergebnis überprüft, noch die Gültigkeit der angewendeten Messverfahren. Dies geschah oft zu Lasten der getesteten Frauen. Die Durchführung des Tests erfolgte häufig ohne das Wissen und die Zustimmung der Frauen. Mangelhafte Handhabung des Tests und Ignoranz der Anbieter im Umgang mit Risikoziffern erzeugten eine Fülle von falsch-positiven Testergebnissen (Testergebnisse zeigten ein Risiko an, das nicht gegeben war). Diese Testergebnisse beunruhigten wiederum die Schwangeren so, dass eine Kaskade von weiteren Untersuchungen (etwa Spezialultraschall), Wiederholungsuntersuchungen, insbesondere aber auch invasive Verfahren, die den Befund endgültig abklären sollten, ausgelöst wurde.
In den ersten beiden Jahren, in denen der Triple-Test "auf dem Markt" war, stieg die Nachfrage in den alten Bundesländern nach invasiver PD um mehr als 33 Prozent. Unsere Untersuchungen ergaben, dass Frauen mit positivem Triple-Test-Ergebnis sich signifikant häufiger als andere Schwangere von ihrem Arzt gedrängt fühlten, die PD in Anspruch zu nehmen obwohl sie diese eigentlich nicht wollten.
Die vorzeitige Einführung ohne klinische Erprobungsphase und die exzessive Ausweitung dieses Tests in der medizinischen Praxis ist eindeutig nicht auf ein Nachfrageverhalten der Schwangeren zurückzuführen. Sie beruhte primär auf einer rein anbieterinduzierten Nachfrage, die durch den Umstand begünstigt wurde, dass für den Test nur eine einfache Blutentnahme erforderlich ist und die Kosten des Tests häufig von den GKV auf dem Kulanzweg übernommen wurden.
Routinemäßige Ausweitung
Zwar verfügt die Ärzteschaft über ein hohes Maß an professioneller Autonomie in der Ausgestaltung ihrer Leistungsangebote, dies gewährleistet aber nicht eine planvolle Gestaltung von Entwicklungsprozessen. Der technischen Verfahren innewohnende Zwang zur Selbstoptimierung, das gilt auch für gentechnische Verfahren und vorgeburtliche Diagnostik, begünstigt die routinemäßige Ausweitung von Anwendungspotenzialen. Der relativ hohe Grad an professioneller Autonomie unterstützt dabei den ad-hoc-Einsatz neuer Verfahren und deren unkontrollierte Ausbreitung. Hinzu kommen marktähnliche Anwendungs- und Nutzungsinteressen. Diese werden vorrangig von den Bedürfnislagen der Adressaten pränataler Leistungen, den Interessen der Anbieter, von Entscheidungen der Kostenträger und von rechtlichen Verfahren bestimmt.
Die Weiterentwicklung und Ausweitung der PD wird kontinuierlich fortschreiten. Für die Beurteilung der Entwicklung neuer Verfahren, wie die zur Zeit in Deutschland verbotene Präimplantationsdiagnostik, erscheint eine von der Bundesärztekammer vorgeschlagene dauerhafte Begrenzung auf wenige hundert Fälle wenig wahrscheinlich. Es ist, in Analogie zur Entwicklung der PD, eine Tendenz zur Ausweitung auf alle in vitro gezeugten Embryonen zu erwarten. Der Beginn dieser Entwicklung ist im Ausland bereit beobachtbar.
Prof. Dr. Irmgard Nippert ist Inhaberin der ersten deutschen Professur für Frauengesundheitsforschung an der Universität Münster und hat die Einführung genetischer Testverfahren als Leiterin mehrerer Forschungsprojekte empirisch begleitet.
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