Traumschön wie im Märchen: Aysegül Celiks Geschichten vom Jesidentum

Buchbesprechung Was weiß man hierzulande von dem Volk der Jesid*innen? Die türkische Schriftstellerin Aysegül Celik nimmt uns in ihren Geschichten mit –auf ein „Papierschiffchen in der Wüste“
Ausgabe 41/2022
Aysegül Celiks Geschichten vom Jesidentum sind schillernd und märchenhaft
Aysegül Celiks Geschichten vom Jesidentum sind schillernd und märchenhaft

Foto: Imago

Als der Schwiegervater voller Zorn das Messer ansetzte, um den Kelim zu zerschneiden, geschah ein Wunder. Die beiden eingewebten Pfauen erhoben ihre Stimmen, „dehnten die Knoten, sprangen vor aller Augen mit langen, kummervollen Schreien aus dem Gebetsteppich und flogen davon“. Noch weiß man nicht, was es mit den stolzen Vögeln auf sich hat, nur dass die schwangere Yildiz, die den Teppich webte, eine Fremde in der Familie ist. Lesend muss ich mir vor Augen führen, wie ernst der Glaube in anderen Teilen der Welt genommen wird, welch kaum überwindliche Kluft Religionen voneinander trennt – und wie erbarmungslos die Verhältnisse gerade für Frauen sind.

Dass der „Engel-Pfau“ als heiliger Vogel der Jesiden gilt, erfahre ich erst gegen Schluss des Buches. Was weiß man denn hierzulande von diesem Volk? Nur dass die Terrormiliz IS 2014 im nordirakischen Sindschar ein Massaker anrichtete. 5.000 bis 10.000 Jesiden wurden ermordet, 7.000 jesidische Frauen und Kinder (meistens Mädchen) wurden entführt. Mehr als 400.000 wurden über all die Jahre aus ihrer Heimat vertrieben.

Wodurch nur zogen sie sich den Hass radikaler Muslime zu? Weil sie noch eine mündliche Religion und Kultur haben, also keine zu respektierende Buchreligion, erklärt die Übersetzerin Sabine Adatepe im Nachwort, und weil der blaue Pfau, Symbol eines Erzengels, mit der Luzifer-Figur in Verbindung gebracht wird. Die Frauen im Buch sind ja alle gläubig, die Mehrzahl Jesidinnen, aber auch Musliminnen und Christinnen begegnen wir. Was sie verbindet: wie sie in einer patriarchalischen Ordnung in ihren Rechten beschränkt werden und aufbegehren. Von Ceylan, einer Christin aus Georgien, heißt es im Dorf, dass sie zur „Sippe der Dschinnen“ gehört, überirdischen Geistern. Doch waren es reale Männer, die ihre Eltern umbrachten, sie entführten, ihr schließlich nach dem Leben trachteten, bis ein junger Mann sie rettete. Eine Wolke weißer Schmetterlinge spielte dabei eine Rolle …

Die Schriftstellerin Ayşegül Çelik ist Türkin, Autorin von Erzählungen, Hörspielen, Filmdrehbüchern. Am Staatlichen Konservatorium der Universität Ankara lehrte sie Mythologie und Weltliteratur. Vom Leid jesidischer Frauen weiß sie aus nächster Nähe. „Von Menschenhand zugefügtes Leid ist so furchtbar, ich spüre oft, wie stark es ist.“ Umso wunderbarer ist ihre Leistung, uns nicht nur Bitterkeit mitzugeben, sondern uns an jener Kraft teilhaben zu lassen, die den beschriebenen Frauen beim Überleben hilft.

Unvergesslich die Geschichte der Erde: Zwei alte Männer sind in Streit geraten, einer brachte den anderen um. Der getötet hat, ist Druse, ein frommer Christ. Nun muss er seine Tochter weggeben, damit sie dem muslimischen Clan des Toten einen Sohn gebärt. Wenn der Junge sieben ist, groß genug, „einen Krug zu halten und ein Schwert zu heben“, wird sie frei sein. Der Sohn „würde selbstverständlich niemals als mein Kind gelten“. Aber sie hängt an ihm, erzählt ihm vom Meer, faltet ihm Schiffchen aus Papier und glaubt fest, dass ihr Traum von Freiheit in seinem Herzen weiterlebt. 50 Seiten später tritt uns dann ein junger Mann entgegen, der Schiffe aus Papier bastelt und schließlich fortreitet – „kleinen Schmetterlingen hinterher“.

Vielleicht merkt man nicht sofort, wie die einzelnen, teils märchenhaften Geschichten und Legenden miteinander verwoben sind. Faszinierend ist es, wie sich im Laufe der Lektüre, Motive und Handlungsfäden verknüpfen. Da ist ein Buch entstanden, das wie ein prächtiger Erzählteppich ist.

Papierschiffchen in der Wüste Ayşegül Çelik Sabine Adatepe (Übers. und Nachwort), Edition Converso 2022, 144 S., 22 €

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