Schon oft habe sie Sex gehabt, „um sich zum Schreiben zu zwingen“
Foto: Anna Breit/Connected Archives
Sie, eine fast dreißig Jahre ältere Lehrerin, er Student – na und? Ist doch sogar der französische Präsident 24 Jahre jünger als seine Frau. Von „einer skandalösen Liebesbeziehung“ spricht der Klappentext. Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux habe „ihr letztes Tabu“ gebrochen. Dabei ist ein junger Mann namens A. schon 2017 in Die Jahre aufgetaucht. Und anders als Mrs. Robinson, die im Film Die Reifeprüfung (1967) einen frischgebackenen College-Absolventen verführt, ist es Ernaux, die sich verführen lässt.
Nach einem Essen im Restaurant nimmt sie ihn mit nach Hause, in der Erwartung, dass es nach einem Orgasmus „nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben“. Schon oft habe sie Sex
20;. Schon oft habe sie Sex gehabt, „um mich zum Schreiben zu zwingen“. Diese Erfahrung mag sie mit männlichen Kollegen teilen. Wie sie so ohne Scham darüber spricht, gehört zum Erfolgsrezept ihrer Literatur: sich selber gnadenlos zu beobachten und bei der Lektüre etwas zu evozieren, was sie gar nicht direkt auszusprechen braucht.Es gibt dieses Glück. Marguerite Duras erzählte nicht nur von der Liebe eines ganz jungen Mädchens zu einem viel älteren Mann, sondern genoss in späten Jahren die Bewunderung eines 38 Jahre jüngeren. Das gewisse Etwas gestandener Frauen: Ob Vivienne Westwood oder Elke Heidenreich, sie machten und machen keinen Hehl aus ihren Beziehungen. Der jüngere Mann – ein schon fast vergessenes Buch der DDR-Autorin Gisela Karau fällt mir ein, in dem so ein Paar beschrieben wird. Gisela Steineckert, Jahrgang 1931, hatte eine glückliche Verbindung mit dem zwölf Jahre jüngeren Sänger Jürgen Walter, bis der entdeckte, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Brigitte Reimann war viermal verheiratet, zuletzt mit einem zehn Jahre jüngeren Arzt, der dann aber auch zu den schwachen Männern gehörte, die wollen und brauchen. Immer wandelte sie von Affäre zu Affäre. Die Hitze erotischer Erfahrungen feuerte sie an. In Guten Morgen, du Schöne von Maxie Wander, die auch mal eine Affäre mit einem jungen Mann hatte, sprechen 19 Frauen auch offen über Sex, ihren Körper, ihre Lust. Schon die sowjetische Revolutionärin Alexandra Kollontai (1872 – 1952) hatte die freie Liebe propagiert. Weibliche Emanzipation war in der DDR politisches Programm. Ermutigung, sich gegen Prüderie und patriarchalischen Dünkel aufzulehnen. Es sollte keine Emanzipation gegen die Männer sein, sondern eine für alle.Sie ist es, die A. verlässtBei Ernaux ist es Kampf und Trotz, „meine Beziehung zu einem Mann, der ‚mein Sohn hätte sein können‘, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war“. Gleichsam kopiert sie, wie Männer dem eigenen Älterwerden entfliehen: „Neben A.s Gesicht war auch meins jung.“ Man staunt, wie die Autorin es in knappen Text-Sequenzen, in kurzen, klaren, mitunter kargen Sätzen verdichten konnte und einem beim Lesen das Vergnügen bereitet, etwas tiefer zu verstehen, als sie es direkt ausgedrückt hat. Der autofiktionale Text ist ja, wie alles von ihr, im Rückblick entstanden. Im Spannungsfeld zwischen einstiger Realität und nachträglicher Verarbeitung gewinnt Der junge Mann einen besonderen Reiz.In Eine vollkommene Leidenschaft (1992) hatte sie die Beziehung zu einem verheirateten Mann beschrieben, eine schwärmerische Faszination, die sie erschreckte und wehrlos machte. Am Ende war sie verlassen worden. Hier nun ist sie es, die A. verlässt, nachdem er ein Kind von ihr wollte, was mit der Eizelle einer anderen Frau hätte gelingen können. „Ich wäre am liebsten in dir drin und würde aus dir herauskommen, um dir zu ähneln“, hatte er auf einer Reise nach Italien zu ihr gesagt. Da erinnert sie sich, wie sie 1963 nach einem Arzt gesucht hatte, der zu einer Abtreibung bereit wäre. Und sie erwähnt, dass man aus A.s Wohnung auf das alte Krankenhaus blicken konnte, in das sie als Studentin nach einer heimlichen Abtreibung mit starker Blutung gebracht worden war. Darüber hat sie in dem Roman Das Ereignis (2000) geschrieben, der nach der Trennung von A. entstanden ist.„Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.“ – Augenscheinlich hat Annie Ernaux mit diesem Buch für sich etwas zu Ende bringen wollen. Allein schon, indem sie angesichts ihres Liebhabers wieder in eine Vergangenheit eintauchte, mit der sie nun ihren Frieden macht. Als sie im Verhalten des jungen Mannes Hinweise auf die eigene Herkunft wiederfindet, wird ihr vollends klar, „dass ich nicht mehr in derselben Welt lebte wie er“. Wie sie auf einer Matratze in seinem eiskalten Zimmer Sex hatten und das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos über die Wände wanderte, schien es, „als wäre ich noch nie aus einem Bett aufgestanden, als wäre es seit meinem achtzehnten Geburtstag dasselbe, an verschiedenen Orten, mit verschiedenen ununterscheidbaren Männern“.Diesmal jedoch – was für eine Genugtuung – hält sie die Zügel in der Hand. A. trennt sich von seiner Freundin und kann nicht genug bekommen von ihr. Wohl nicht nur in weiblicher Reife bestand diese Macht, sondern auch in einem gesellschaftlichen Status, an den er nicht heranreichte. Den sie in seiner Gegenwart umso mehr genießt. „Ich hatte den Eindruck, wieder das skandalöse Mädchen von damals zu sein. Doch diesmal ohne die geringste Scham, mit einem Triumphgefühl …“Triumph über einstige Demütigung. Annie Ernaux ist eine politisch aktive Frau, eine Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Es gibt inzwischen eine ganze Literaturströmung, die den Aufstieg aus armen Verhältnissen zum Gegenstand hat. Manchmal treten die Benachteiligten gegeneinander an, die Kluft zwischen Arm und Reich wird derweil immer tiefer. Ernaux zeigt unverblümt: Wer andere hinter sich lassen will, braucht Ellenbogen. „Als wollte ich ihn von mir lösen und abstoßen, so wie ich es gut dreißig Jahre zuvor mit dem Embryo getan hatte.“ Was aus dem Geliebten wird, interessiert sie nicht. „Es war Herbst, der letzte des 20. Jahrhunderts. Ich stellte fest, wie glücklich ich war, allein und frei ins dritte Jahrtausend einzugehen.“
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